0215 - Kugeln pfeifen Todeslieder
Flasche erneut an ' die Lippen und trank ein paar Schlucke. Nicht weil er jetzt noch Durst gehabt hätte. Einfach nur, weil er die Flasche nun einmal in der Hand hielt.
Drüben, jenseits des Talgrundes, kamen ein paar Männer aus der Höhle, in der das Stabsquartier eingerichtet war. Bei diesem verrückten Verein mußte ja alles einen Namen haben, der nach Militär klang. Lanschitzky kniff die Augen zusammen. Warum marschierten die Leute denn? Und warum hatten sie die Gewehre umgehängt? Hatte der Colonel vielleicht während seiner Abwesenheit eingeführt, daß die ausgestellten Posten im Gleichschritt abgelöst werden mußten? Es wäre ihm zuzutrauen gewesen. Aber — da war doch einer, dem man die Hände auf dem Rücken gefesselt hatte. Was hatte denn das zu bedeuten? Was war da nun wieder los?
Der Gangster sah dem Zug nach, der hinunter zu der Stelle marschierte, wo die einzige Zufahrt zur Schlucht offenstand. Die Zufahrt, durch die jeder gestohlene Wagen hereingefahren wurde. Hinter einer Krümmung der Hauptschlucht verschwand der Zug und versank damit auch augenblicklich aus Lanschitzkys Interessenkreis. Seine Gedanken kehrten zu dem Problem zurück, das ihn nun schon seit Stunden quälte: Was für eine Strafe würde sich der Colonel für ihn einfallen lassen? Welche teuflische Gemeinheit würde er wieder ersinnen? Dreißig Peitschenhiebe, bis einem das Fleisch in Fetzen vom nackten Rücken hing? Oder was sonst?
Lanschitzky fühlte, wie ihm auf einmal kalt wurde, unbeschreiblich kalt. Dazu trat ein merkwürdiges Kribbeln in allen seinen Adern. Als ob Tausende von Ameisen in seinem Körper durch die Blutbahn liefen.
Er stand auf und bewegte sich etwas. Mir schlafen schon alle Glieder ein, dachte er. Erst stundenlang in unserem Wagen gehockt, der uns hinausfuhr in die Einsatzorte, dann wieder stundenlang in dem Buick, und jetzt mußt du dich natürlich auch wieder setzen. Geh bloß nicht einmal zwanzig Schritte. Du könntest dich dabei überanstrengen.
Wo, zum Teufel, bleibt eigentlich Steward? Brauchte er zwei Stunden, um dem Colonel die Geschichte zu erzählen?
Der Gangster steckte sich eine Zigarette an. Als er den ersten Rauch ausblies, sah er sie verwundert an. Was war denn das für ein Kraut? Sie schmeckte ja wie Heu. Er nahm einen neuen Zug und verzog angewidert das Gesicht. Die Zigarette flog weg. Er trampelte wütend darauf herum. Was für ein Dreck durfte heutzutage denn verkauft werden? Es war doch eine richtige Packung Luckys, zum Teufel noch mal!
Er sah nach. Und es waren Luckys. Er hatte doch Luckys gekauft. Wie hätte er auf den Gedanken kommen sollen, daß es nicht an der Zigarette lag, sondern an der Funktionsstörung seiner Organe, die sich zunehmend ausbreitete.
Er sah auf seine Uhr. Nun war Steward schon gute zehn Minuten beim Colonel drin. Ob der Colonel ihn durchwalkte? Es wäre nicht schlecht, wenn sich Renniers Wut erst einmal über Steward ergoß. Das würde ihm einiges ersparen, denn jede Wut verraucht einmal. Andererseits hielt kein Mensch die Peitsche aus, ohne zu schreien. Und drüben aus dem Stabsquartier drang kein Laut. Es war fast beängstigend ruhig im Tal.
Warum sahen die Männer, die an den Wagen arbeiteten, eigentlich dauernd hinab zu der Krümmung, wo die anderen mit dem Gefesselten verschwunden waren? Erwarteten sie dort etwas Besonderes? Aber sie konnten doch nicht um die Krümmung blicken? Oder warteten sie auf etwas, das man würde hören können, wenn es eintrat?
Lanschitzky wurde plötzlich klar, daß niemand mehr arbeitete. Keiner von den Männern, die Motor- und Fahrgestellnummern auszuschleifen und neu einzustanzen hatten, rührte einen Finger. Keine der Handschleifmaschinen surrte, kein Bohrer kreischte. Es war unheimlich.
Plötzlich krachten Gewehrschüsse. Lanschitzky zuckte zusammen. Hatten sie den Mann erschossen? Aber nein. Das war ausgeschlossen. Nicht aus irgendeinem moralischen Grunde. Wenn sie ihn erschossen hätten, wäre es mit einer einzigen Salve gemacht worden. Dafür kannte er diesen Verein. Das aber waren einzelne Schüsse.
Er stand auf und wollte ein paar Schritte auf die Krümmung zugehen, als er dahinter wütendes Schreien und erneut Schüsse hörte.
Polizei! schoß es ihm durch den Kopf. Er wußte nicht, ob er sich freuen, ob er sich davor fürchten oder ob es ihm gleichgültig sein sollte. Kam die Polizei früh genug, würde ihm das erspart bleiben, was der Colonel sich für ihn ausdachte. Aber womöglich war für die Polizei der
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