022 - Der Sarg der tausend Tode
gefährlichen Angriff aufbauen können, aber das konnte sich schlagartig ändern. Der geringste Fehler genügte, und die Partie kippte für Schwarz um.
»Hm«, machte Neville O’Neill. »Hm.« Er stellte sich mal auf seine Seite, dann auf die Seite des Gegners, während seine Augen über das Schachbrett wieselten und sein Gehirn blitzschnell Kombinationen und Gegenzüge ausarbeitete.
Er wußte, daß er nichts überstürzen durfte, deshalb wandte er sich nach einer Weile vom Schachbrett ab und begab sich zur Hausbar, um sich einen teuren Cognac zu nehmen.
Langsam ließ der den edlen Tropfen in dem riesigen Schwenker kreisen, damit er bei Handwärme das richtige Aroma entfaltete. Mit dem Glas in der Hand trat er ans Fenster.
Er verschwendete dabei keinen Blick an das Schachbrett. Er hatte die Stellung im Kopf, hätte sie mit verbundenen Augen weiterspielen können. Versonnen schob er die milchweiße Gardine zur Seite.
Der Ausblick, den Neville O’Neill hier hatte, war nicht besonders großartig, denn er schaute direkt auf die langgezogene Ruine eines ausgebrannten Fabrikgebäudes.
Vor vier Jahren war der Brand bei Schweißarbeiten ausgebrochen, und dieser Schandfleck stand immer noch dort. Nachts war’s nicht so schlimm, da war von dem schwarzen Gebäude kaum etwas zu sehen, aber bei Tag ärgerte sich O’Neill jedesmal, wenn er zum Fenster hinausschaute.
Er spiegelte sich im Glas, betrachtete sich wohlgefällig und prostete sich zu. »Und wir kriegen ihn doch, diesen alten Halunken«, sagte er überzeugt. »Es muß uns nur gelingen, ihn in eine Falle zu locken, aus der es für ihn kein Entrinnen mehr gibt.«
O’Neill nahm einen Schluck vom Cognac. Dann wollte er sich wieder dem Schachbrett zuwenden. Aber da irritierte ihn irgend etwas in der Finsternis. Eine Bewegung vielleicht. Er vermochte es nicht zu sagen.
Neville O’Neill trat näher an das Fenster heran. Er stellte den Schwenker beiseite und schirmte die Augen ab, um mehr in der Dunkelheit erkennen zu können, und plötzlich wich die Farbe aus seinem Gesicht.
***
Fassungslos beobachtete Neville O’Neill, was in unmittelbarer Nähe seines Hauses passierte. Er sah riesige Ratten, und er sah einen Mann, der anscheinend nicht mehr lebte und von diesen widerlichen Nagern zur Ruine geschleppt wurde.
Die Tiere schleiften den wahrscheinlich Toten über den Bürgersteig, auf einen unkrautbewachsenen Schutthaufen zu und über diesen drüber. Ratten und Leichnam verschwanden aus O’Neills Blickfeld.
Der verdatterte Mann schüttelte den Kopf. »So große Ratten… Das gibt’s doch nicht …«, preßte er verstört hervor.
Ihm war klar, daß er die Sache nicht auf sich beruhen lassen durfte. Es erfüllte ihn mit Furcht, als ihm einfiel, daß er, in unmittelbarer Nachbarschaft dieser riesigen Nager, extrem gefährdet war.
Er mußte dagegen unverzüglich etwas unternehmen. Es geschah zu seinem eigenen Schutz. Diese Riesenratten schienen ihr Opfer auf offener Straße angefallen zu haben. Nun schleppten sie es in die Fabrikruine, um es aufzufressen.
Wie lange würde es dauern, bis die erste Ratte hier erschien?
Kopflos hastete Neville O’Neill zum Telefon.
»So groß… Wie konnten sie so entsetzlich groß werden?« keuchte er und riß den Hörer von der Gabel. Er war entschlossen, die Polizei zu alarmieren, und die mußte dann unverzüglich etwas gegen diese gefährliche Rattenplage unternehmen.
Er tippte die erste Ziffer des Polizeinotrufs in den Apparat. Da fühlte er sich mit einem Mal so durchdringend angestarrt, daß er sich umdrehen mußte. Es wäre ihm nicht möglich gewesen, nicht darauf zu reagieren.
Seine Augen weiteten sich in namenlosem Grauen, denn durch das Fenster, an dem er vorhin gestanden hatte, starrte ihn so eine Monsterratte feindselig an.
»Jetzt kommen sie zu dir!« flüsterte er verstört.
Er ließ den Hörer sinken. Die Polizei wäre ja doch nicht mehr rechtzeitig hier eingetroffen. Kalter Schweiß brach dem Mann aus allen Poren. Sein fahriger Blick suchte nach einem Gegenstand, mit dem er sich bewaffnen konnte. Er entdeckte den Feuerhaken, der neben dem offenen Kamin lehnte.
Aufgeregt holte er ihn, während sich draußen die Ratte zum Sprung duckte und sich abschnellte. Wie ein Geschoß prallte das Tier gegen das Glas des Fensters und durchschlug es mit seinem dunkelgrauen Körper.
Ein klirrender Glasregen ging auf dem Teppich nieder. Neville O’Neill stieß einen grellen Entsetzensschrei aus, als die Monsterratte auf
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