022 - Schreie aus dem Sarg
dann merkte er, dass doch etwas anders war. Die Ketten fehlten!
Er suchte vergebens unter der Couch, unter den Sesseln, unter dem eisernen
Bettgestell.
Sie waren weg !
Simonelle schluckte. Hatte de Freille doch etwas unternommen, dass er es
wagen konnte, den Körper Charlenes auch bei Dunkelheit hier liegen zu lassen,
ohne ihn anzuketten?
Simonelle griff sich an die Stirn. Was war nur los mit ihm? Immer, wenn der
Name de Freille in seinem Bewusstsein auftauchte, störte ihn etwas.
Wo war de Freille jetzt? Wo waren überhaupt die zwölf Stunden, an die er
sich nicht mehr erinnern konnte? Heute Morgen um zehn hatte er das Haus
verlassen, und jetzt, kurz nach neun Uhr abends, war er in diesem seinem Haus
wieder aufgewacht!
Etwas stimmte hier nicht. Hatte er getrunken, war er unter den Einfluss
einer Droge geraten?
Droge ... Droge . Er hatte dieses Wort in irgendeinem Zusammenhang
erst vor einigen Stunden gehört.
Er ließ noch einmal seinen Blick schweifen. Die Ketten waren verschwunden.
Er wusste sich nicht anders zu helfen, als aus dem Werkzeugkasten, der in der
Ecke neben dem alten Schrank stand, ein paar Nägel zu holen. Damit nagelte er
den Sargdeckel quer, so dass gerade so viel Platz blieb, dass Kopf und Beine
der Scheintoten freilagen.
Dann verließ Simonelle die Dachkammer. Hätte er genauer zu dem Fenster
neben der Couch gesehen, wäre ihm aufgefallen, dass in dem Rahmen nur noch
Reste einer zersplitterten Scheibe steckten. Und draußen auf dem schmalen
Dachvorsprung lag eine ausgeblutete Leiche. Die totenblasse, verkrampfte Hand
hing noch im Fensterkreuz.
Claudine ...
●
Simonelle betrat das Foyer des kleinen Hotels.
Er setzte sich in einen leeren Ledersessel und griff nach einer Zeitung.
Sein Innerstes war aufgewühlt wie die See während eines heftigen Sturms.
Er blätterte achtlos die Zeitschrift durch, versuchte sogar, einen Bericht
zu lesen, konnte aber seine Gedanken nicht sammeln.
Simonelle musste nicht lange warten.
Ein junger Mann – offenbar ein Hotelangestellter – kam am Sessel vorüber,
beugte sich nach vorn, während er einen frischen Ascher auf den kleinen
Glastisch stellte, und flüsterte kaum vernehmlich: »Monsieur Keita erwartet Sie
auf Zimmer 34.«
Ohne sich weiter um den einsamen Gast im Ledersessel zu kümmern, ging der
Hotelangestellte zum nächsten Tisch weiter und stellte auch dort einen frischen
Ascher hin.
Simonelle ließ noch drei Minuten verstreichen, ehe er die Zeitung
zusammenlegte und sich dann gemächlich erhob. Er warf einen Blick in den
Spiegel in der Nische, rückte die Krawatte zurecht und stieg dann die mit rotem
Teppich belegten Stufen in den ersten Stock hoch. Er begegnete niemandem. Als
er vor der Tür stand, auf der ein goldblinkendes Schild die Nr. 34 trug,
klopfte er an.
»Herein!«
Simonelles Muskeln strafften sich. Er wusste nicht, worauf er sich einließ,
aber es ging um Jean-Pierre und Charlene. Wieso
eigentlich um Jean-Pierre? fragte er sich im Stillen. Was hat er damit zu tun? Er ist heute Morgen von einem Freund abgeholt
worden – ich habe das Motorboot doch noch gehört ...
Wieso war er eigentlich noch nicht zurück?
Es war merkwürdig, dass keine Sorge und kein Angstgefühl in ihm aufkamen.
Er drückte die Klinke. Das Zimmer, in das er eintrat, war gemütlich
eingerichtet.
Ein Mann kam ihm entgegen. Ein Farbiger.
Er trug einen beigen Anzug, maßgeschneidert.
Der Schwarze begrüßte seinen Gast und schloss die Tür hinter ihm.
Simonelle war ganz auf Abwehr eingestellt. Mit einem raschen Blick in die
Runde vergewisserte er sich, dass er und der Afrikaner allein im Zimmer waren.
Der Guinese lächelte, als er den Blick seines Gastes bemerkte.
»Ich begreife Ihre Vorsicht und Ihr Misstrauen, Monsieur.« Er sprach ein
gepflegtes Französisch. »Ich glaube, es ist an der Zeit, sich zunächst einmal
für eine kleine Notlüge zu entschuldigen. Mein Name ist nicht Keita – ich heiße Mamadou Lamine .«
»Das sagt mir genauso wenig wie Ihr angeblicher Name Solifou Keita.« Der
Schwarze lachte und zeigte zwei Reihen strahlend weißer Zähne.
»Ja, das kann ich mir denken. Aber es war eine Vorsichtsmaßnahme! Für Sie –
wie für mich!« Er bot dem Franzosen einen Sessel an, goss zwei Drinks ein und
sprach erst dann weiter. »Es ist notwendig, Sie aufzuklären.« Er musterte
Simonelle mit einem merkwürdigen Blick. »Sie standen offenbar unter der Wirkung
einer Droge, die mir bekannt ist«, sagte er. »Ich erkenne die
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