022 - Schreie aus dem Sarg
Mann. Sie besitzen viel. Unter
anderem auch ein zweistrahliges Privatflugzeug.«
»Sie sind erstaunlich gut unterrichtet.«
»Das bringt mein Beruf so mit sich. Ich würde Ihnen den Vorschlag machen,
noch in dieser Nacht zum Flugplatz zu fahren, Ihre Tochter zu verfrachten und
sofort loszufliegen. In zwei Stunden könnte der Start schon sein.«
»Unmöglich. Ich brauche erst eine Fluggenehmigung und ...«
»Die Formalitäten sind erledigt! Wir brauchen nur Ihr Ja!«
»Ja!«
Lamine reichte ihm die Hand. »Ich hoffe, etwas für Sie tun zu können. Jede
Minute ist jetzt kostbar. Leider kann ich Ihnen nicht auch noch die
Unannehmlichkeiten der Reise abnehmen. Ihre Tochter muss nach Afrika, der
Medizinmann, der bereit ist, den Versuch zu wagen, muss sie persönlich sehen.«
»Ich verstehe. Und Sie können sich darauf verlassen, dass es niemandes
Schaden sein wird. Sorgen Sie auch bitte dafür, dass Sie etwas über das
Schicksal meines Sohnes erfahren.«
»Wir bleiben am Ball. In Conakry erfahren Sie weiteres.«
Simonelle fuhr sehr rasch zur Villa zurück. Er rannte ins Haus. Es war
stockfinster. Er vermisste etwas. Die Schreie! Die Unruhe, das Stöhnen und
Wimmern, das die letzten beiden Nächte erfüllt hatte ...
Er kam durch die Wohnung, und sein Herz wollte stehenbleiben.
Ein Hurrikan schien durch die Zimmer gefahren zu sein. Die kostbaren Vasen
waren zertrümmert. Geschirrscherben lagen auf dem Boden, der Tisch und die
Stühle waren umgekippt. Die ganze Wohnung in größter Unordnung.
Claudine? Nein, hier war ein Tobsüchtiger tätig geworden.
» Charlene !« Er schrie den Namen
förmlich heraus, dann stürmte er die Treppen hoch. Die Stufen knarrten unter
seinen schweren Schritten.
» Charlene !« Er hetzte die
Wendeltreppe hoch und sah die Tür zur Dachkammer sperrangelweit offen.
Der Sarg – leer! Wie aber hatte sie
die Tür – ? Die Frage beantwortete sich von selbst. Er hatte in seiner
Verwirrung vergessen, den Schlüssel abzuziehen, hatte ihn von innen stecken
lassen!
Plötzlich hörte er Motorengeräusch.
Ein Stöhnen entrann seinen Lippen.
»Charlene?!« Er stürzte zum Fenster, riss den Vorhang zur Seite und
glaubte, ein elektrischer Schlag würde seinen Körper treffen.
Auf dem schmalen Dachvorsprung der ausgeblutete Leichnam Claudines! Als er
über den starren Körper hinwegblickte, sah er unten den Rolls-Royce, der
gestartet wurde.
Am Steuer die totenblasse Charlene mit weit aufgerissenen, irren Augen ...
Der Wagen schoss förmlich nach vorn.
Charlene war unterwegs – Richtung Stadt.
Nach dem, was hier geschehen war, wusste Simonelle, was sich ereignen
würde. Charlene lief Amok ...!
●
Sie verließen den Nachtclub. Da bemerkte er, dass er keine Zigaretten mehr
hatte.
»Geh schon mal zum Auto, Nicole!«, sagte er. »Ich komme sofort nach.«
Sie nickte und ging über die Straße.
Mehrere Wagen parkten am Straßenrand, darunter auch ein Rolls-Royce. Ihr
fiel dieses Auto auf. Schließlich sah man diese Marke nicht jeden Tag in den
Straßen Epernays. Nicole warf im Vorübergehen einen Blick in das Auto. Dann
ging sie weiter. Der kleine 2CV stand an der Ecke, direkt unter der hellen
Straßenlaterne.
Nach rechts führte eine schmale, dunkle Seitenstraße mit dicht
zusammengedrängt stehenden Häusern.
Als Nicole vor dem 2CV stand, war ihr, als höre sie ein leises Stöhnen. Sie
wandte den Blick in die Richtung des Geräuschs. Drüben in der dunklen Gasse
tauchte ein Schatten auf. Sie sah an die Hauswand gelehnt einen zweiten
Schatten, einen Mann, der langsam zu Boden glitt.
Dann ging alles blitzschnell.
Die grazile, flinke Gestalt rannte direkt auf sie zu.
Nicole war wie gelähmt.
Sie sah den blitzenden, überdimensionalen Dolch in der rechten Hand der
schauerlich aussehenden Person.
Nicole schrie. Es hallte durch die nächtliche Straße.
Doch sie war unfähig, sich von der Stelle zu bewegen.
Ihre angsterfüllten Augen sahen die blutverschmierten Hände, den blutigen
Dolch und erfassten wieder das verzerrte, zur Fratze verunstaltete Gesicht.
Eine Wahnsinnige !
Die Stiche trafen sie in die Schultern und in den Brustkorb. Sie hörte
nicht mehr das Wimmern und Röcheln aus dem Mund ihrer amoklaufenden Mörderin
und sah nicht, wie die Tür des Nachtclubs aufgerissen wurde, wie ihr Verlobter
auf die Straße stürzte, wie mit ihm drei weitere Gäste den Club verließen.
» Nicole !«
Er rannte wie von Furien gehetzt zu dem 2CV. In seinem Gesicht stand der
Schweiß.
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