022 - Schreie aus dem Sarg
»Wieso kam dies hier alles ...«
»Später«, unterbrach X-RAY-3 ihn mit schwacher Stimme. Er lächelte matt.
»Zunächst einmal ist Ihre Tochter wichtig. Ich konnte vorher über gewisse
Dinge nicht sprechen. Als ich wusste, dass man Ihre Tochter gefunden hatte, war
es wichtig für mich, sie nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Man hatte Ihnen
zwar angedroht, dass Sie auf keinen Fall eine Beerdigung anberaumen sollten, um
sich nicht selbst ins eigene Fleisch zu schneiden. Doch so ganz sicher, ob die
furchtbare Prozedur die erwartete abschreckende Wirkung haben würde, war man
sich auch in den Reihen der Gnamous niemals.
Ich musste dabei sein, wenn Ihre Tochter den ersten Anfall hatte, dann erst
konnte ich diesen Mann«, und damit zog er den alten Medizinmann nach vorn,
»herbeizitieren. Im Büro Camaras waren alle sprungbereit. Doch dann kam die
Sache mit meiner Überrumpelung dazwischen. Um ein Haar wäre alles umsonst
gewesen, und die Zeitungen hätten morgen berichten können, dass Conakry um
einen unheimlichen Toten reicher sei ...«
Vier Männer waren notwendig, um die Tobende auf dem Boden festzuhalten. Sie
wand und krümmte sich wie unter einem Krampf. Schweiß stand auf ihrer Stirn,
ihre Muskeln zuckten und spannten sich, als wolle sie die Fesseln sprengen. Sie
schrie wie am Spieß.
Der Medizinmann machte ein besorgtes Gesicht. Er ließ Nanette Luison auf
den Bauch drehen, zog das Gewand von ihren Schultern und setzte an drei
verschiedenen Stellen ihrer Schultern und ihres Nackens mehrere gefiederte
Pfeile ein. Daraufhin verschwand er für mehrere Minuten in der Küche des
Hauses. Als er zurückkam, hielt er ein Gefäß mit einer dampfenden Flüssigkeit
in der Hand. Es roch nach starken Gewürzen und Essenzen, die einem den Atem
raubten.
Mit äußerster Anstrengung gelang es, der Tobenden, die man mit Mühe
aufrecht setzen konnte, einige Schlucke der abgekühlten Flüssigkeit
einzuträufeln. Danach wurde sie merklich ruhiger. Ihr Körper entspannte sich,
die Glut in den Augen schwächte sich ab, und die krampfhaften Zuckungen ließen
nach.
Dann fielen Nanette Luison die Augen zu. Sie rührte sich nicht mehr.
Der Medizinmann erhob sich.
»Sie schläft. Zum ersten Mal tief und fest. Ich hoffe, die Träume verfolgen
sie nicht auch in diesen Schlaf. Das könnte ungeahnte Risiken mit sich
bringen.« Er wechselte ein paar Worte mit Larry Brent und Kommissar Camara.
X-RAY-3 wandte sich an Luison. »Jetzt kommt es auf Sie an, Monsieur.« Seine
Stimme klang etwas fester. Doch er fühlte sich hundeelend und völlig ermattet.
Der Medizinmann hatte ihm nahegelegt, sich schlafen zu legen. Er wollte es
später tun.
»Sagen Sie, was ich tun soll.«
»Sie müssen versuchen, noch einmal das gleiche Fest zusammenzubringen,
Monsieur. All die Leute, die Monsieur Lasalle in jener Nacht eingeladen hatte,
müssen wieder mit von der Partie sein. Alle wichtigen Personen, die Ihre
Tochter kennt, und von denen sie weiß, dass sie auf diesem Fest sein müssten –
müssen wieder kommen. Die Männer, mit denen Ihre Tochter in jener Nacht tanzte
...«
»Das ließe sich arrangieren. Ich bin überzeugt davon. Lasalle wird mich
nicht im Stich lassen.«
»Auch Dr. Keita wird mit von der Partie sein. Wir wissen, dass er an diesem
Abend viel mit Ihrer Tochter gesprochen hat.«
»Aber ...«
»Es ist für alles gesorgt. Es wird nichts geschehen. Für die andere Sache
allerdings sind Sie verantwortlich.«
»Für welche Sache?« Luison hatte nicht ganz begriffen, und Larry bemerkte,
dass seine Gedanken seinen Worten vorausgeeilt waren.
»Die Menschen, die am Fest teilnehmen, dürfen mit keinem Wort erwähnen,
dass es schon einmal stattgefunden hat. Das ist die größte Schwierigkeit. Sie
müssen Nanette so begegnen, als sei nichts geschehen. Die zwei vergangenen Tage
müssen aus ihrem Gedächtnis verschwinden. Ihr darf die Lücke nicht bewusst
werden. Zwei Tage werden ihr immer fehlen, aber dieses Paradoxon wird ihr nicht
auffallen, wenn keiner der geladenen Gäste einen entscheidenden Fehler macht.
Das Ende würde bedeuten: nicht unbedingt den Tod Ihrer Tochter, garantiert aber
ihre Einweisung in eine Irrenanstalt!«
Luison schluckte. »Aber da ist ein Mann, der mit einem einzigen Wort alles
zunichte machen kann, Monsieur Brent. Haben Sie auch daran gedacht?«
Larry nickte. »Ja, ich weiß. Keita. Das haben wir einkalkuliert. Kommissar
Camara wird viele seiner Leute als Kellner und Hotelangestellte herumlaufen
lassen. Einige
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