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Mabille auf. Die Vernarrtheit des Jungen in sie war vorbei.
Er diente jetzt Graf Robert, und dessen eigenartiges Betragen verängstigte ihn.
Ungeduldig hörte Mabille zu, derweil er die von de Belesmes Hauptmann erzählte Geschichte wiederholte, der aus Rennes eingetroffen war und endlich Neuigkeiten über die Demoiselle mitgebracht hatte. Mabille strengte sich an, die Freude über diese Neuigkeiten zu verhehlen.
Dann schaute sie aus ihrem schmalen Turmfenster und sah ihren Sohn. Seit seinen Säuglingstagen hatte sie ihn nicht mehr weinen gesehen, und damals hatte er oft wütend und fordernd gebrüllt. Alarmiert raffte sie die Röcke und ging zu ihm hinunter.
Mit ungewohnter Sanftheit berührte sie seine Schulter. „Komm, Robert, lass uns nach oben gehen, wo niemand uns sehen kann", drängte sie ihn.
Verlegen schaute er sie an und wischte sich rasch mit dem Handrücken die nassen Wangen ab. Er nickte und gestattete Piers, ihn auf die Füße zu ziehen. Zu dritt ging man langsam zu Mabilles Solar zurück. Roberts Schritte waren schwer und seine breiten Schultern erschlafft. Seine Mutter sehnte sich danach, ihn zu berühren und zu trösten, doch das wagte sie nicht. Nur Eleanors überstürzte Flucht hatte es zuwege gebracht, dass eine Art Versöhnung zwischen ihnen beiden zustande gekommen war, und diese Versöhnung war bestenfalls dürftig zu nennen. Und Mabille wusste, dass Roberts Ärger für den Moment vielleicht verraucht sein mochte, jedoch bemerkenswert schnell wieder erwachen konnte. Sie musste sich damit begnügen, Robert leicht auf die Schulter zu klopfen.
„Setz dich, mein Sohn, und ich werde dir Wein eingießen. Dann kannst du mir alles erzählen."
„Was gibt es da zu erzählen?" fragte er müde. „Eleanor ist jetzt in England und verheiratet."
„Verheiratet?" Ungläubig hatte Mabille die Stimme erhoben. „Wann? Mit wem?"
„Vor etlichen Wochen. Mit Roger FitzGilbert, wenngleich er kein FitzGilbert mehr ist."
„Was? Robert, halt mich nicht mit solchem Unsinn zum Narren. Roger FitzGilbert ist Eleanors Bruder!" Mabille wollte noch mehr sagen, doch der Ausdruck im Gesicht ihres Sohnes hielt sie davon ab. Das Verletztsein und die Wut, die sie seiner Miene entnahm, ließen sie verstummen.
„Das haben wir alle gedacht, Narren, die wir waren, Mutter. In Wirklichkeit ist Roger nicht Eleanors Bruder. Es ist nicht einmal Gilberts Bastard!" Die Wut gewann die Oberhand über Roberts widersprüchliche Gefühle. „Er ist Harlowes Erbe!"
„Robert, du kannst nicht richtig verstanden haben." Mabille hatte überzeugend und beschwichtigend gesprochen. „Nein, Rogers Muttter war Gilberts Hure."
„Er hat sie Harlowe gestohlen, der sie für tot hielt. Aber offenbar erst dann, nachdem Richard de Brione sie geschwängert hatte." Die Ironie dieser Situation veranlasste Robert, das Gesicht zu verziehen. „Jetzt ist der Bastard kein Bastard mehr und liegt mit Eleanor im Ehebett, während mir nichts als Demütigung bleibt."
Mabille trat hinter Robert und begann, ihm die verspannten Schultermuskeln zu massieren. Klugerweise ließ sie ihn ausnahmsweise einmal reden, derweil sie ihn massierte und ihm zuhörte.
„Ja, ich habe Eleanor hier fast einen Palast erbaut. Die Stühle, Kasten und Truhen bei italienischen Handwerkern bestellt, und nun wird sie das alles nicht sehen. Ich wäre sacht mit ihr verfahren, Mutter."
Mabilles Neid auf diese unerwünschten Extravaganzen gewann die Oberhand über ihre Vorsicht. „Nein, Robert..." Sie beugte sich vor und schlang die schlanken Arme um seinen Hals, und ihr rotes Haar fiel wie feuerfarbener Satin über seine Schultern.
„Du bist das Mädchen endlich los. Es ist gut, dass es bei Roger ist. Welche Verwendung hättest du für eine, die im Kloster aufgewachsen ist?" Die Stimme senkend, sagte Mabille rauher: „Jetzt, da sie weg ist, können wir so zueinander sein, wie wir das immer waren."
„Hör auf!" Grob löste Robert ihre Arme, entzog sich ihr duckend und stand verärgert auf. „Welche Verwendung ich für Eleanor hätte? Jede Verwendung, Mutter! Sie gehört mir! Mir! Hast du gehört? Mir! Ich hätte sie geheiratet und dich weggeschickt! Ich hätte ihr alles gegeben, was ich ihr hätte geben können!" Er drehte sich zu Mabille um. „Aber sie hatte Angst vor mir und ist vor mir weggelaufen, Mutter. Ja, ich habe sie mit meinem Wesen erschreckt, das ich von dir habe." Er näherte sich der Mutter. „Ich bin dein Sohn, Mabille. Sieh, was dein Blut mir eingebracht
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