0223 - In den Krallen der roten Vampire
Gegner eine Chance. Das wußte auch Lady X. Deshalb war sie vorsichtig und hielt sich immer ein wenig zurück. Sie wollte den Blutsauger nicht reizen, aber sie wartete auf die Chance, ihm eins auszuwischen.
Äußerlich hielt sie zwar zu ihm, innerlich jedoch mochte sie den grobschlächtigen Bluttrinker nicht und wollte auch zusehen, daß er nicht zu mächtig wurde. Deshalb paßte ihr das Auftauchen der roten Vampire nicht so in den Plan. Zum Glück jedoch war sie mitgekommen, denn falls Vampiro-del-mar durchdrehte, konnte sie regulierend eingreifen, was immer man auch darunter verstand.
Mit dem Lauf der Waffe deutete die Scott auf den Höhleneingang.
»Willst du da runter?«
»Natürlich.«
»Dann geh!«
Vampiro-del-mar zögerte. »Und du?« erkundigte er sich lauernd.
»Was hast du vor?«
»Ich halte hier oben Wache.«
Der Supervampir schien dem Braten nicht so recht zu trauen, denn er schüttelte seinen widerlichen Schädel. »Ich weiß nicht, ob das stimmt«, flüsterte er.
»Traust du mir nicht?« fragte die ehemalige Terroristin spöttisch.
»Möglich.«
»Keine Angst, ich verschwinde schon nicht.«
»Du hast schließlich auch Lupina getötet, als ihr allein gewesen seid.«
Die Scott lachte rauh. Dabei öffnete sie den Mund und zeigte ihre beiden spitzen Vampirhauer. »Das war etwas anderes. Lupina wollte ihren eigenen Weg gehen. Aber du…«
»Hüte dich!« knurrte Vampiro-del-mar. »Hüte dich davor, mich reinlegen zu wollen. Ich werde dich sonst vernichten, indem ich dir den Kopf vom Körper reiße.«
Das war eine brutale Androhung. Vampiro-del-mar konnte ungeheim gewalttätig sein. Er nahm dabei auf niemanden und nichts Rücksicht. Wenn er Blut haben wollte, räumte er furchtbar und schrecklich auf.
Ein langer Blick traf die ehemalige Terroristin, bevor Vampiro-del-mar sich abwandte, in die Knie ging und versuchte, in den durch Buschwerk versteckten Höhleneingang zu klettern.
Er hatte seine Schwierigkeiten, denn er mußte die Zweige erst zur Seite schieben. Seine Hüften waren auch ein wenig breit, so daß er sich ein paarmal drehte, um überhaupt tiefer rutschen zu können.
Dann hatte ihn der Eingang verschluckt, und Lady X wandte sich ab.
Sie ging einige Schritte vor, umrundete dabei zwei Felsen und hatte eine freie Sicht, soweit man davon in der leicht bewölkten Nacht sprechen konnte.
Vor ihr lag die hügelige Landschaft der Schwäbischen Alb. Weite Täler, sanft ansteigende Berghänge, Waldstücke, dazwischen, malerisch verstreut, kleine Dörfer. Sie konnte sie jetzt nicht erkennen, sondern sah nur hin und wieder ein einsames Licht brennen, das wie ein verloren wirkender Stern funkelte.
Auch eine Straße führte durch die Landschaft. In zahlreichen Kurven wand sie sich weiter. Hin und wieder glitt lautlos ein Fahrzeug vorbei. Die hellen Scheinwerferaugen tauchten auf und waren sehr schnell wieder verschwunden.
Lady X wußte nicht, wie viele rote Vampire es gab. Sie hoffte, daß es keine schlafende Armee war, denn wenn Vampiro-del-mar zahlreiche Diener bekam, konnte sie ihre eigenen Pläne zurückstecken, und das wollte sie nun gar nicht. Sie sah nicht ein, daß sie die zweite Geige spielte. Das hatte sie noch nie getan, und das würde sie auch in Zukunft nicht tun. Bei Lupina hatte sie dies sehr deutlich bewiesen. Allerdings konnte sie auch davon ausgehen, einen neuen Feind bekommen zu haben. Nämlich Orapul, Lupinas Sohn. Er hatte überlebt, und sicherlich würde er sich rächen wollen, denn Lady X trug schließlich die Schuld am Tod seiner Mutter.
Die Zeit verging.
Es war still. Aus dem Tal drangen keinerlei Geräusche in die Höhe, nur ein paar lange Dunststreifen stiegen lautlos an den Hängen hoch und verteilten sich auf den runden Kuppeln der Hügel.
Irgendwie hoffte die Blutsaugerin auch, daß die Entdeckung des roten Vampirs eine Zeitungsente war. Aber verlassen konnte sie sich darauf nicht, und wenn die Meldung an die richtigen Stellen geriet, dann war es möglich, daß sich auch ihre Feinde, das Team um John Sinclair, auf den Weg machten, um nachzuforschen.
Ab und zu schritt sie wieder auf den Höhleneingang zu, um nachzuschauen.
Von Vampiro-del-mar hörte sie und sah sie nichts. Die Unterwelt hatte ihn verschluckt.
Nervös war Lady X nicht. Menschliche Gefühle waren ihr fremd.
Sie spielte auch mit dem Gedanken, die Waffe umzuladen und ein mit Silberkugeln gefülltes Magazin hineinzustecken, dann ließ sie es bleiben. Die Zeit würde noch früh genug kommen.
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