0224 - Nur der Satan kennt Manhattan
ich mich dazu entschloss, kämpfte ich lange mit mir, ob ich den Kontakt zwischen uns herstellen sollte. Schließlich aber entschied ich mich dafür. Erstens ist er mein Bruder, und zweitens wollte ich wissen, ob ich nicht einen positiven Einfluss auf ihn ausüben könnte.«
»Glauben Sie, dass Ihnen das gelungen ist?«
»O ja. Er lernte selbst das Gangstertum zu verachten. Ich glaube, ohne unbescheiden zu sein, kann ich sagen, dass mir seine Wandlung zu verdanken ist und dieser Wandlung wiederum die Tatsache seiner vorzeitigen Entlassung.«
»Wo befindet sich Ihr Bruder zurzeit?«
»In einem Dorf auf Long Island. Sechsundzwanzig Jahre Zuchthaus haben ihre Spuren hinterlassen, das werden Sie sich denken können. Aber ich glaube schon, dass ich ihn wieder richtig auf die Beine bekomme. Er muss sich nur erst langsam wieder ans freie Leben gewöhnen und ein paar Wochen Ruhe haben.«
»Hätten Sie was dagegen, wenn wir ihn besuchen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ein wenig behutsam mit ihm umgingen. Er ist ziemlich geschwächt.«
»Das lässt sich denken«, sagte ich. »Bitte, seien Sie davon überzeugt, dass wir ihm nichts anhängen wollen. Er hat seine Strafe verbüßt und damit ist für uns das Vergangene erledigt. Aber wir müssen ihm einige Fragen vorlegen, so leid es uns tut.«
»Das wird ihn sicher nicht stören«, sagte Miss Clifford, während sie an einem kleinen Schreibtisch die Adresse ihres Bruders auf einen Zettel schrieb.
»Noch dazu, wenn es auf eine so höfliche Weise geschieht. Ich muss dem FBI im Stillen etwas abbitten. Ich dachte nicht, dass G-men so freundlich und höflich sind. Ich hatte mir die G-men immer ein bisschen rau und grob vorgestellt.«
Phil grinste breit: »Kinderschreck und Buhmann, das kennen wir, Miss Clifford. Dabei sind wir ganz gewöhnliche Sterbliche. Wir danken Ihnen jedenfalls für Ihre Auskünfte. Und entschuldigen Sie die Störung zu so früher Stunde.«
Wir verabschiedeten uns, nachdem wir den Zettel mit der Adresse erhalten hatten. Als wir mit dem Lift hinabfuhren, dachte ich: Neville liegt auf einer hoffnungslos falschen Fährte. Dieser Clifford kann gar nichts mit dem Banküberfall zu tun gehabt haben.
Zwei Stunden später hatten wir ein kurzes Gespräch mit John Clifford. Er klagte heftig über Rheuma und starke Gelenkschmerzen. Sein schlohweißes Haar beeindruckte uns, als wir erfuhren, dass er doch noch nicht einmal fünfzig Jahre alt war. Als wir uns von ihm verabschiedeten, wusste ich genau, dass dieser Mann kein Gangster mehr war. Neville hatte sich offenbar in eine fixe Idee verrannt.
***
Am nächsten Vormittag besuchten wir Neville. Er sah blass aus, hockte apathisch auf seiner Pritsche und hob kaum den Kopf, als wir seine Zelle betraten. Es war keine der üblichen Gefängniszellen. Noch war Neville nichts anderes als ein gewöhnlicher Untersuchungshäftling. Er durfte lesen, was er wollte, rauchen, gegen eigene Bezahlung zusätzliche Mahlzeiten oder Getränke - außer Alkohol natürlich - verlangen und Briefe schreiben, so lange und so viele er wollte. Aber das alles änderte nichts daran, dass er in einer Zelle saß. Es war, als ob man einen Adler in einen Käfig gesperrt hätte.
»Hallo, Neville!«, sagte ich betont locker. »Na, alter Junge, wie geht es dir?«
Er sah unß ah. Seine Augen waren tief in den Höhlen gesunken, dunkle Schatten zeichneten sein Gesicht. Er zuckte nur wortlos mit den Achseln und zeigte in müder Gebärde auf die Stühle.
Wir setzten uns. Neville hatte die Lippen aufeinandergepresst. Nach einiger Zeit stand er plötzlich auf und schob uns ein Blatt Papier, das auf den Tisch gelegen hatte, herüber.
Wir beugten uns über den einfachen Brief. Er war von einer ungeübten, aber nicht etwa kindlichen Hand beschrieben. Der Text lautete: »Geehrter Mister Neville Mit aufrichtigem Bedauern habe ich durch die Zeitungen erfahren, dass Sie ins Untersuchungsgefängnis eingeliefert wurden. Offengestanden, verstehe ich nicht ganz, wie Ihnen so etwas passieren konnte. Wir sind doch beide aus dem Alter heraus, wo uns das Blut überkochen und der Verstand die Kontrolle über uns verlieren konnte. Natürlich kann ich mir vorstellen, wie Ihnen zumute gewesen sein mag, als Sie plötzlich dem Mörder eines früheren Kollegen gegenüberstanden. Ich habe in den vielen und langen Jahren, die ich im Zuchthaus zubringen musste, einsehen gelernt, dass es keinen Sinn hat, sich
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