0228 - Ratten-Tanz
drehte er sich jetzt um.
Claudine unterdrückte einen Schrei. Fehlgeschlagen! Lauf um dein Leben! schrie es in ihr. Sie warf sich herum, kämpfte sich die Böschung hinauf. Hartes Gras und Brennesseln, Disteln… nichts durfte sie aufhalten. Auf halber Höhe drehte sie den Kopf.
Da stand Rogier, und langsam streckte er seine Hand aus. Die Finger waren gespreizt. Seine Augen glühten wie Kohlestücke.
»Nein!« keuchte Claudine, die nicht begriff, warum er ihr nicht folgte.
Taumelnd, keuchend erreichte sie die Kante. Vielleicht zwanzig Meter entfernt glänzte das silberne Asphaltband einer Straße im hellen Sonnenlicht.
Da war hinter ihr ein Geräusch, das sie zwang, sich abermals umzusehen.
Diesmal konnte sie den Aufschrei nicht unterdrücken.
Rogier kam! Er mußte unten abgesprungen sein. Und jetzt schwebte er empor, meisterte mit spielerischer Leichtigkeit die Höhe, die Claudine sich mühsam erkämpft hatte, mit aufgeschrammten Beinen und zerkratzten Armen. Rogier schwebte mit unfaßbarer Kraft empor, erst langsam, zeitlupenhaft, und seltsamerweise immer schneller werdend, je höher er kam! Dabei streckte er die Hände nach Claudine aus.
Sie begann zu rennen.
Hinter ihr kam Rogier federnd auf und sprang sofort wieder. Es war ein grotesker Anblick. Solche Bewegungen hatte Claudine vor vielen Jahren als Kind im Fernsehen gesehen, als Menschen über den Mond wandelten und infolge der niedrigen Schwerkraft weite Sprünge wie in Zeitlupe machen konnten.
Da war Roger hinter ihr. Seine Hände umklammerten Claudine. Eigentlich mußte er mit ihr zusammen stürzen, so wie er sprang. Aber sie stürzten nicht. Rogier stand fest wie ein verwurzelter Baum, und er hielt Claudine mitten im Lauf auf. Sie schrie, versuchte sich loszureißen. Dünner Stoff verursachte ein ratschendes Geräusch. Eine Hand setzte nach, schloß sich wie eine Stahlklammer um ihren Arm, drehte sie herum. Sie starrte direkt in Rogiers Augen.
»Hattest du wirklich geglaubt, du könntest entkommen?« fragte der Unheimliche, und im roten Feuer, das aus seinen Augen sprühte, glaubte Claudine zu verbrennen.
***
In einem Regen aus Glassplittern kam Louise Piquet gut zehn Meter unter dem Fenster ihres Krankenzimmers im Krankenhauspark auf. Geschickt federte sie ab, strauchelte nicht, obgleich sie rückwärts gesprungen war, und machte ein paar schnelle Schritte.
Sie sah sich nicht um. Aber das Glühen in ihren Augen wurde stärker als zuvor.
Wieder bewegte sie sich. Marionettenhaft, wie eine Puppe, an deren Fäden gezogen wird, schritt sie vorwärts. Sie sah starr nach vorn, nicht nach rechts und nicht nach links und nicht zurück. Als vor ihr die hohe Umzäunung des Geländes auftauchte, zögerte sie keine Sekunde, federte unmerklich in den Knien und setzte in einem unglaublichen Sprung über das Hindernis hinweg.
Augenblicke später war sie verschwunden.
Kaum jemand achtete auf das merkwürdige Gebaren einer Frau, die durch Morlaix schritt und vor sich nur ein ihr bekanntes Ziel sah. Wie eine Schlafwandlerin strebte sie diesem Ziel entgegen.
Sie folgte dem Ruf.
***
Claudine verbrannte nicht. Sie konnte dem verzehrenden Feuer aus den Augen Rogiers widerstehen. Aber sie war nicht mehr in der Lage, ihm körperlich Widerstand zu leisten, als er sie wie ein kleines Kind an die Hand nahm und hinter sich her wieder den Hang hinunterzerrte.
»Was geschieht dort?« fragte sie zitternd.
Rogier lachte leise.
»Etwas«, sagte er geheimnisvoll. »Geh zurück in die Höhle. Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Ich werde dich nicht wieder fesseln, aber du weißt, daß du mir nicht entkommen kannst.«
Da sei dir nicht ganz so sicher, dachte sie in wütender Verzweiflung. Und sie erschrak fast zu Tode, als er antwortete und damit unter Beweis stellte, ihre Gedanken lesen zu können.
»Ich bin mir sicher. Und selbst wenn ich dich nicht halten könnte - sie könnten es!« Und er deutete auf den tanzenden Kreis der sieben großen Ratten.
Claudine erschauerte. Willenlos ließ sie sich in die Grotte stoßen und stürzte auf die Decke.
Sie könnten es! hallten seine Worte in ihr nach. Sie - die Ratten! Die Ratten besaßen hier die Macht. Etwas geschah, das allen Naturgesetzen Hohn sprach.
»Bitte«, schluchzte sie. »Sag mir, was ihr von mir wollt! Bitte!«
Rogiers Augen glühten immer noch. »Warte«, sagte er dumpf. »Warte es ab. Noch ist deine Zeit nicht gekommen. Alles, was geschieht, geschieht zu deinem Besten.«
»Wann?« flüsterte sie.
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