0228 - Ratten-Tanz
entging ihm, was in der Grotte geschah.
Claudine Piquet bemühte sich, so lautlos wie möglich zu sein.
Sobald sie im Innern der Grotte allein war, versuchte sie an ihren Fesseln zu arbeiten. Sie wußte immer noch nicht, weshalb sie von den Unheimlichen entführt wurde, aber seit sie die Einschußlöcher im Rücken eines äußerst lebendig wirkenden Mannes entdeckte, wurde die Angst vor dem Ungewissen in ihr immer größer. Und sie setzte alles daran, so schnell wie möglich frei zu kommen.
Mit der Zeit dehnten sich die Schnüre ein wenig. Die Knoten zogen sich fester, wurden unauflösbar, aber dadurch gewann Claudine millimeterweise mehr Spielraum.
Und plötzlich hatte sie eine Hand frei!
Sie zog sie unter der Decke hervor. Die Haut war von dem Seil aufgeschrammt, jetzt schon erheblich beweglicher als zuvor, immer wieder zu, zerrte die stinkende Decke beiseite und rollte sich daraus hervor.
Zwischendurch lauschte sie immer wieder nach draußen.
Die hellen Pfeiftöne der Ratten drangen nicht bis zu ihr vor, aber sie fühlte das Unheimliche, das wie eine schwarze Wolke heranglitt und sich bedrückend auf ihr Bewußtsein legen wollte. Jene unnennbare Kraft, welche die Ratten entfesselten…
Da wußte sie, daß sie nur noch eine geringe Chance besaß. Sie zerrte an den Fesseln, löste sie schließlich und stand auf.
Sofort knickte sie wieder ein und stürzte. Die lange Einschnürung ihrer Gliedmaßen und die damit erzwungene Starre hatten einen Blutstau erzeugt. Claudine konnte sich nicht auf den Beinen halten.
»Ganz ruhig bleiben«, rief sie sich selbst zur Ordnung. Wenn sie jetzt nervös wurde und überhastet Fehler beging, konnte sie sich auch sofort wieder hinlegen und in die Decke rollen.
Sie begann ihre Waden und Füße zu massieren, starkes Prickeln setzte ein und zeigte, daß der Blutfluß ganz allmählich wieder in Tätigkeit kam. Claudine ließ in ihrem Mühen nicht nach, und immer wieder sah sie zum Eingang der Grotte. Hoffentlich kamen dieser Rogier oder Alphonse nicht zwischendurch herein…
Die Aura des Bösen wurde stärker, hüllte alles ein. Endlich fühlte Claudine, daß sie sich wieder annähernd so bewegen konnte, wie sie es wollte. Sie wußte nicht, wie spät es war. Jedes Zeitgefühl war ihr abhanden gekommen. Aber der Helligkeit nach, die von draußen herein kam, mußte es Mittag oder kurz danach sein.
Lautlos huschte sie zum Höhleneingang. Vorsichtig schob sie sich vorwärts und spähte hinaus.
Rogier wandte ihr den Rücken zu. Er sah angestrengt in die entgegengesetzte Richtung und ahnte wohl nicht einmal, was hinter seinem Rücken vorging.
Claudine schlüpfte ins Freie.
Helles, warmes Sonnenlicht traf sie. Unwillkürlich streckte sie sich unter den wärmenden Strahlen. Es wurde ihr bewußt, wie kühl es in der Grotte war und wie wenig sie anhatte.
Unwillkürlich sah sie in die gleiche Richtung wie Rogier.
Was war das? Übergroße Ratten tanzend in einem Kreis? Die Luft flimmerte. Etwas griff nach Claudine, wollte ihr etwas zeigen, das sie mit ihrem Menschengehirn nicht verstehen konnte. Im letzten Moment löste sie sich aus der beginnenden Erstarrung. War Rogier ebenso von dem rätselhaften Geschehen betroffen, in seinem Bann gefangen, wie es ihr um ein Haar ergangen wäre?
Das Grauen kroch in ihr hoch. Langsam und schleichend. Sie sah die Gänsehaut, die sich auf ihren bloßen Armen und Beinen bildete, und fühlte es kalt über ihren Rücken gleiten. Gespenstergeschichten, wenn sie richtig erzählt wurden und es draußen dunkel war, womöglich der Wind durch die Bäume pfiff, hatte sie immer gemocht. Es war ein angenehmes Gruseln.
Aber das hier - war kein angenehmes Gruseln. Das war nackter Horror.
Claudine sah sich gehetzt um. Die Höhlenöffnung befand sich an einer Böschung. Weiter hinten blitzte Wasser. Wahrscheinlich die Bucht von Morlaix. Dann mußte eine Straße in der Nähe sein - hoffentlich.
Aber wenn Claudine jetzt floh, die Böschung hinaufkletterte, ging das nicht geräuschlos ab. Das Geräusch konnte Rogier aus seiner Starre reißen. Die anderen waren zu weit entfernt und wohl in Trance, soviel begriff das Mädchen.
Sie mußte Rogier ausschalten.
Sie trat hinter ihn, verschränkte die Hände und holte mit beiden Armen aus. Sie mußte ihn niederschlagen, betäuben. Ein kräftig geführter Hieb…
...ließ ihre Arme zurückfedem, als schlüge sie auf einen Gummiball!
Rogier wankte nicht. Er zuckte nicht einmal zusammen.
Aber langsam, ganz langsam
Weitere Kostenlose Bücher