0228 - Ratten-Tanz
Abdrücke der Zähne, die tief ins Fleisch gegangen waren, deuteten auf ein viel größeres Gebiß hin.
Was aber noch viel verwundersamer war: die Wunde blutete nicht. Sie konnte im Moment des Zubeißens nicht geblutet haben, und es trat auch jetzt kein Blut aus. Aber das Verhalten der Frau zeigte deutlich, daß die Verletzung schmerzhaft war.
Doktor Sonnier kratzte sich nachdenklich am linken Ohr.
»Wenn es nicht so unmöglich wäre«, sagte er, »würde ich behaupten, daß die Rattenzähne glühten und die durchtrennten Blutgefäße einfach an den Schnittstellen zuschweißten. Aber so etwas gibt’s höchstens in der Fantasie närrischer Ärzte…«
Sein Assistent schob das Kinn vor.
»Wollen Sie die Wunde nicht versorgen?« fragte er leicht vorwurfsvoll.
Sonnier grinste ihn freudlos an. »Und wie, bitte? Es gibt nichts zu versorgen. Keine Blutung, keine offenen Gefäße. Somit auch keine Infektionsgefahr. Das Höchste der Gefühle wird sein, daß ich die Wundränder mit einem Pflaster zusammenhefte, damit sie leichter aneinanderwachsen. Ich wüßte nicht, was sonst zu tun wäre.«
Der Assistent zuckte mit den Schultern und brummte etwas Unverständliches.
»Das wollte ich auch hmen«, machte Sonnier. »Aber haben Sie eine Erklärung?«
»Und was dann? Wir können sie nicht hierbehalten. Sie muß in psychiatrische Behandlung.«
Sonniers Finger schob sich entlang der Nase zur Brille hoch.
»Vielleicht ist ihre… geistige Verletzung… ähnlich seltsam wie die körperliche«, überlegte er. »Dann könnte es sein, daß es auch nur eine Schein-Verrücktheit ist… nun, egal. Rufen Sie bei den Kollegen an, daß sie Madame Piquet abholen.«
Der Assistent verließ das Zimmer. Doktor Sonnier blieb allein mit seiner eigenartigen Patientin zurück.
Plötzlich hob sie den Kopf, als lausche sie einer unhörbaren Stimme. Sonnier registrierte die Veränderung sofort. Ruckartig erhob sich die Frau, stand auf beiden Beinen, als habe sie keine Verletzung.
Sonnier betrachtete sie aufmerksam -und stutzte.
Was war mit ihren Augen los? Woher kam dieses eigenartige Glühen? Ein Sonnenreflex in den Pupillen konnte es nicht sein, die Sonne stand falsch, und das Zimmerfenster lag nach Norden. Trotzdem glaubte er ihre Augen glühen zu sehen.
»Madame Piquet?« sprach der Arzt sie an.
Ihre Lippen öffneten sich. Eigenartig spitz ihr Mund, überlegte Sonnier und sah die Eckzähne.
Sie traten etwas hervor!
»Was ist mit Ihnen los, Madame? Was sehen Sie?« fragte Sonnier, dem es langsam ungehaglich wurde. Etwas an dem Verhalten der Frau flößte ihm Furcht ein. Er tastete hinter sich zum Türgriff.
Ansatzlos sprang die Frau ihn an.
Ihre Körper prallten gegeneinander, ehe Sonnier eine Abwehrbewegung machen konnte. Er schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand und sank in sich zusammen. Die Bewußtlosigkeit nahm ihn auf.
So nahm er nicht mehr wahr, was anschließend geschah.
Madame Piquet drückte seinen Kopf leicht zurück, bis der Hals freilag. Dann senkte sie die Eckzähne in seine Schlagader wie ein Vampir.
Aber sie trank sein Blut nicht.
Es gab kein Blut, das aus der Wunde austrat.
Nach ein paar Sekunden löste die Frau ihren Biß, richtete sich auf und stakste marionettenhaft rückwärts zum Fenster.
Dort gab sie sich einen Ruck.
Klirrend zerbarst die Scheibe.
Ein großer Körper stürzte nach draußen…
***
In der Nähe einer feuchten Grotte sahen drei Männer andächtig auf ein eigenartiges Bild, das sich ihren schwach glühenden Augen bot. Ein Kreis von sieben Ratten, die alle besonders groß gewachsen waren, kauerte aufgerichtet auf den Hinterbeinen, die Oberkörper mit den kantigen Schädeln pendelten leicht hin und her, als folgten sie einer Melodie. Die Vorderpfoten waren ausgestreckt und berührten einander.
Keiner der drei Männer betrachtete dieses Bild als ungewöhnlich. Für sie war es völlig normal.
Die Luft in der Mitte des Rattenkreises flimmerte wie unter großer Hitze. Hin und wieder gab eine der Ratten Pfeiflaute von sich, die in ihrer abgehackten Form Morsezeichen glichen. Bei jedem Laut ging es wie ein heftiger Stoß durch die flirrende Luft.
Ein starker Kraftstrom entstand und floß nach irgendwo ab. Die Aura starker Magie breitete sich aus und erreichte auch die Grotte, in der sich eine Gefangene befand, und vor der ein Mann namens Rogier Wache hielt.
Wie gebannt schaute er zu dem Kreis hinüber, den seine drei Gefährten wie die Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks umgaben. So
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