023 - Das Kastell der Toten
gewiss» Unruhe im Dorf zu spüren. Menschen kamen aus ihren Häusern, redeten miteinander, verschwanden wieder. Die Straße lag genauso ausgestorben wie immer in der Sonne — aber Dave war Schriftsteller, und er besaß genug Feinfühligkeit, um auch einen leisen Wechsel in der Atmosphäre zu spüren.
Er hatte die Zeit der mittäglichen Glut in seinem Zimmer verbracht. Jetzt stand er auf, um hinunterzugehen. Als er die Hand auf die Klinke legte, hörte er draußen ein heftiges Fauchen. Rasch öffnete er die Tür... und sah Maria, das Schankmädchen, die offenbar gerade der Katze einen Fußtritt versetzt hatte.
Das Tier wischte durch die Tür in sein Zimmer. Dave schüttelte den Kopf.
»Was soll das?« fragte er scharf. »Was hat Ihnen das Tier getan?«
Maria war blass. Ihre Lippen pressten sich aufeinander.
»Sie ist böse«, sagte sie.
»Unsinn! Was ist übrigens draußen los?«
»Draußen? Ich weiß nicht, Signore.«
Dave zuckte die Achseln und wollte weitergehen. Aber Maria berührte rasch seinen Arm — die erste auch nur halbwegs persönliche Geste, seit er hier war.
»Sie sollten gehen, Signore«, sagte sie leise. »Ihr Bruder ist fort. Er kommt nicht zurück.«
Dave stutzte.
Die Augen des Mädchens waren auf sein Gesicht gerichtet. Große, dunkle Augen mit einem sanften Schimmer. Und in ihrer Stimme — ja, in ihrer Stimme zitterte etwas wie Angst.
Dave runzelte die Stirn.
»Von wo zurück?« fragte er ebenso leise.
»Ich weiß nicht, Signore. Sie müssen gehen. Bitte! Es ist besser, wenn Sie gehen.«
Dave biss die Zähne zusammen.
Für einen Moment spürte er wieder das Unbehagen, die seltsame Beklemmung. Warum, zum Teufel, hatte sein Bruder dieses Nest einen seltsamen Ort genannt? Er atmete tief durch, und diesmal war er es, der Maria am Arm festhielt.
»Helfen Sie mir«, bat er leise. »Sagen Sie mir, was Sie wissen.«
»Aber ich weiß nichts, ich ...«
»Sie haben meinen Bruder gekannt. Er war drei Tage hier, und er hat Ausflüge in die Umgebung gemacht. Irgendjemand muss doch wissen, wo er hingegangen ist, was er hier getrieben hat und...«
»Er hat es nicht gesagt, Signore. Wirklich nicht.«
Dave sah sie an.
»Aber Sie wissen es trotzdem«, sagte er. »Er hat Sie gefragt, nicht wahr? Er wollte malen, Skizzen machen, und er hat Sie nach der Umgebung und der Landschaft gefragt.«
Maria schlug die Augen nieder. Aus irgendeinem Grund flüsterte sie jetzt. »Er ist oft auf das Plateau hinaufgestiegen, Signore. Ich habe ihm den Weg beschrieben. Es ist ein kleiner Pfad, der direkt hinter der Kirche beginnt, neben dem Friedhof. Aber ich bin nicht mitgegangen, nie.«
»Und warum nicht?«
»Ich wollte nicht. Vom Plateau aus kann man das Schloss sehen, und ...«
Abrupt hielt sie inne. Ein flackernder Blick traf Daves Gesicht, mit einer heftigen Bewegung wandte sie sich ab, und während er noch über diese merkwürdige Begründung nachdachte, hastete sie bereits die Treppe hinunter.
Dave schüttelte den Kopf.
Das Schloss sehen, klang es in ihm nach. Sie musste Castel Montsalve meinen. Aber was, zum Teufel, war so ungewöhnlich daran, dass man von dem Hochplateau aus das Schloss sehen konnte?
Er zuckte die Achseln, weil er wusste, dass es ohnehin keinen Sinn hatte, darüber nachzudenken. Immerhin verfügte er jetzt über einen Anhaltspunkt. Das Plateau und das Schloss. Er entschied, sich beides anzusehen, und stieg hinter dem Mädchen die Treppe hinunter.
Die Schankstube war leer, auch draußen auf der Straße konnte er niemanden entdecken. Eine schwarze Katze lag auf einer niedrigen Mauer, blinzelte träge in die Sonne und huschte davon, als er die Fahrbahn überquerte. Hinter den Fensterhöhlen der Häuser glaubte er eine unbestimmte, rastlose Bewegung wahrzunehmen — aber er war seiner Sache nicht sicher, und er hatte es längst aufgegeben, mit diesen misstrauischen, eigenbrötlerischen Leuten irgendwelchen Kontakt herzustellen.
Den Pfad hinter der Kirche fand er sofort. Zwischen der Friedhofsmauer und einem verfallenen Schuppen waren Stufen in den Stein geschlagen. Sie führten ein paar Meter aufwärts und stießen dann auf ein breites Felsenband. Ein brüchiges Geländer sicherte den Weg, aber Staub und Geröll verrieten, dass er nur selten benutzt wurde. Dave bewegte sich vorsichtig, warf ab und zu einen Blick auf das Dorf zurück, bis eine scharfe Felsennase die Häuser seinem Blick entzog. Unvermittelt und beinahe erschreckend fiel der Schatten über ihn. Die tief
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