0230 - Im Land der Unheils
Waren die anderen nicht mehr als roh aus dem Fels geschnittene Höhlen gewesen, so waren die Wände hier geglättet und sorgfältig bearbeitet, verziert mit Reliefs und halbplastischen Bildern, die mit großer Geduld und Meisterschaft aus dem Stein herausgemeißelt worden waren.
Aber Zamorra hatte keinen Blick für den künstlerischen Aspekt des Gewölbes. Seine Aufmerksamkeit galt einzig der gigantischen, bogenförmigen Tür am anderen Ende des Saales. Die beiden mehr als zehn Meter hohen Torflügel bestanden allem Anschein nach aus massivem Stein, und Zamorra fragte sich beim Anblick der gigantischen steinernen Angeln unwillkürlich, wie er das Tor öffnen sollte. Jeder der Flügel mußte Dutzende von Tonnen wiegen.
Irgend etwas war mit ihm geschehen, während er den endlosen schrägen Gang hinabgestiegen war. Ein Teil der Lähmung, die nach Nicoles Tod von ihm Besitz ergriffen hatte, war von ihm abgefallen; aber nur ein Teil. Tief in seinem Inneren war noch immer dieses dumpfe, taube Gefühl des Abgestorbenseins, Toten. Er würde kämpfen, aber nicht, weil er einen Sinn darin sah, sondern nur, weil es nur die Wahl zwischen diesen zwei Alternativen gab: Kämpfen und entweder Siegen oder Sterben, oder zurück in die Weiten des Labyrinths zu gehen und dort zu sterben. Und, weil er es Nicole und Bill schuldig war.
Er dachte flüchtig an den Alten, aber wieder gelang es ihm nicht, irgendwelche Gefühle zu aktivieren. Der Pfeil, den er abgefeuert hatte, hatte gleichermaßen ihn wie Nicole getroffen, aber er verspürte immer noch keinen Haß. Beinahe wunderte er sich schon selbst darüber. Es war nicht seine Art, Schläge so einfach einzustecken.
Zamorra konzentrierte sich wieder auf die Tür. Sie lag am oberen Ende einer breiten, steinernen Treppe, deren Stufen ein wenig zu hoch und zu schmal für menschliche Benutzer schien. Langsam ging er darauf zu, verhielt vor der untersten Stufe und starrte das gigantische Tor an.
Was hatte der Alte gesagt? Ich habe einmal einen Blick hineingeworfen, aber was ich gesehen habe…
Zamorras Hand glitt langsam in die Tasche. Sekundenlang umklammerte er die faustgroße Kristallkugel, spürte die Kälte und Glätte des Glases und zog die Kugel dann behutsam hervor. Mit einem Mal hatte er beinahe Angst. Nach allem, was er hier unten erlebt hatte, fürchtete er sich davor, den letzten Schritt zu tun. Was immer dort drinnen auf ihn wartete - es mußte all seine Vorstellungen sprengen.
Vielleicht der Teufel persönlich.
»Eine sehr gute Idee, die Kugel jetzt zu benutzen«, sagte eine Stimme hinter ihm. Zamorra war nicht einmal erschrocken. Er hatte gewußt, daß er den Alten noch einmal Wiedersehen würde. Langsam drehte er sich herum, wechselte die Kugel von der Rechten in die Linke und zog mit der freien Hand seine Waffe.
Auch der Magier war bewaffnet. Er hatte seinen Langbogen gegen Schild und Schwert eingetauscht und trug nun eine einfache, braune Kutte. Auch sein Äußeres hatte sich verändert. Zamorra bemerkte, daß er plötzlich gar nicht mehr so alt und gebrechlich wirkte; im Gegenteil. Mit jeder Sekunde, die er ihn ansah, schien er jünger zu werden. Das faltige Gesicht glättete sich, das Haar wurde wieder dunkel und voll, und schließlich stand Zamorra einem muskulösen, hochgewachsenen Mann gegenüber, der nur wenig älter als er selbst schien.
»Ich hätte es mir denken können«, murmelte er.
»Was?« sagte der andere. »Daß ich nicht bin, was ich scheine?« Er lächelte und schüttelte dabei fast mitleidig den Kopf. »Sie konnten es nicht merken. Ich hatte sehr viel Zeit, meine Tarnung zu perfektionieren.«
»Ich war ein Idiot«, sagte Zamorra emotionslos.
»Das waren Sie nicht«, widersprach der Magier ruhig. »Jede Ebene verlangt ihr Opfer. Auch diese. Wenn es einem gelingen kann, die Schatzkammer zu betreten, so muß ein anderer dafür sterben.«
»Und das bin ich?«
»Oder ich«, sagte der Magier ruhig. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Zamorra. Ich habe Ihre Freunde nicht aus purer Mordlust getötet. Es ist die Regel hier unten. Einer stirbt, damit die anderen leben können. Ich habe die Auswahl getroffen, das ist richtig. Ich habe den Spieler mit dem höchsten Überlebenspotential geschützt. Aber ich hätte sie nicht retten können, keinen von ihnen. Es war nur die Frage, wer zuerst stirbt. Und nur einer von uns beiden wird die Schatzkammer betreten.« Er hob den Schild ein wenig höher und schlug spielerisch mit dem Schwert in die Luft. »Es wird ein
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