0241 - Der Pesthügel von Shanghai
bewacht werden mußten.
Tag und Nacht waren Leute abgestellt, die ein Auge auf die Kulturen warfen. Sie allein garantierten den Fortbestand des Dorfes.
Einer dieser Wächter hieß Fu-Peng. Er war noch jung, studierte eigentlich Geschichte und Literatur in Shanghai, aber er mußte für ein Jahr sein Studium unterbrechen, um auf dem Land zu arbeiten.
Man hatte kleine Häuser gebaut, in denen die Raupenzucht betrieben wurde. Obwohl es keine Klimaanlage gab, schafften es die Züchter dennoch, die Temperatur immer konstant zu halten. Wie sie das genau machten, erzählten die alten Meister niemandem. Das war Familienwissen und wurde nur jeweils an den ältesten Sohn weitergegeben.
Fu-Peng wäre gern hinter das Geheimnis gekommen, doch da schwiegen die Alten wie ein Grab. Niemand ließ sich in seine Karten schauen, und man hatte dem Studenten aus Shanghai nur Wachaufgaben zugeteilt.
Die Raupenkulturen befanden sich hinter Glas. Beschlagen waren die Scheiben, so daß Fu-Peng nicht viel erkennen konnte. Obwohl er den Job als langweilig empfand, war er dennoch froh, ihn bekommen zu haben. Kommilitonen von ihm war es da schlechter ergangen. Sie wurden zu Ausbesserungsarbeiten der Großen Mauer in das Landesinnere abkommandiert, da empfand Fu-Peng die Arbeit bei den Raupen als Erholung.
Wie jeden Tag trug er auch an diesem seine blaue, derbe Kleidung. Sie stammte noch aus der Mao-Zeit. Da Fu-Peng in den letzten Jahren kaum gewachsen war, paßte ihm die Kleidung noch.
Natürlich hatte auch er bemerkt, daß einiges nicht stimmte. Der Geruch aus dem braunen Sumpf war anders geworden, stärker, intensiver, und Fu-Peng hatte sich nicht gescheut, auch Fragen zu stellen. Dabei war er immer sehr komisch angeschaut worden, besonders von den Alten, und die hatten ihn schließlich vor der großen Pest gewarnt.
»Ja, eine Pest hat es mal hier gegeben, das weiß ich. Aber die ist überstanden.«
Da hatten die Alten nur die Köpfe geschüttelt und ihn einen unwissenden Narren genannt. Eine Frau schließlich war dicht an ihn herangetreten und hatte ihm folgenschwere Worte ins Ohr geflüstert.
»Die Toten sind nicht tot. Sie kommen zurück. Und der Sumpf will seine Opfer…«
An die Worte mußte Fu-Peng denken, als er durch die kleine Baracke marschierte und sich die Raupen anschaute, die fast alle mit einem hellen Kokon umgeben waren. Er schüttelte den Kopf. Nein, an diese Märchen wollte er nicht glauben. Die alten Männer und Frauen wußten viele Geschichten zu erzählen, zahlreiche Legenden gab es von guten und bösen Geistern. Jede Provinz, fast jede Stadt oder jedes Dorf hatte seine großen und kleinen Götter.
Wer kannte sich da schon aus?
Fu-Peng jedenfalls nicht. Seine erste Kontrollaufgabe hatte er erledigt. Eigentlich hielt ihn nichts mehr in der kleinen Zuchtbaracke, er öffnete die Tür und trat nach draußen.
Auf der Schwelle noch blieb er stehen und verzog das Gesicht, so daß es wirkte wie ein eingeschrumpfter Apfel. Er konnte es kaum glauben, aber was er zu sehen bekam, ließ sich einfach nicht wegleugnen. Es war grauenhaft und schaurig.
Vom Sumpf her, der links von ihm lag und in den der Knüppeldamm wie ein breites Lineal hineinstach, drangen die Wolken der Pest. Widerliche Gerüche, an verwesende Leichen erinnernd, braune Dampfwolken, die den Hauch des Todes mitbrachten.
Was hatten die Alten noch gesagt?
Die Toten würden zurückkehren oder so ähnlich. Fast sah es so aus, wenn er in die braunen Nebelschleier schaute, die einen so widerlichen Gestank verbreiteten.
Da die Baracke so ziemlich als letzte lag, konnte er nicht nur die Wolken sehen, sondern auch den braunen Sumpf. Er wußte, daß man ihn Pesthügel nannte, aber heute war es ein Pesthügel, der nicht stillag, sondern sich bewegte.
Warf er nicht Wellen?
Und quollen an zahlreichen Stellen nicht gewaltige Blasen hoch, die ihn an dünne, gläserne Kuppeln mit braunen Streifen erinnerten? Ja, so war es. Und wenn die Kuppeln platzten, weil sie dem Druck nicht mehr standhalten konnten, dann wehte jedesmal eine neue, vom Wind getriebene Pestwolke auf das Dorf zu und erreichte zuerst die Baracke, in der Fu-Peng arbeitete.
Er schlug die Tür zu. Allerdings von innen. Dann lehnte er sich gegen das Holz, riß den Mund auf, schnappte nach Luft, keuchte und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Überall im Mund schmeckte er den widerlichen Gestank.
Er schien sich auf seiner Zunge und im Rachen festgesetzt zu haben, so daß er die Übelkeit kaum
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