0248 - Auf dünnen Seilen tanzt der Tod
Zettel geschrieben. Seine Taschen steckten immer voll von kleinen, weißen Papierstücken.
»Her mit der Dame«, brummte er.
Stewy nickte und ging die Indianerin zu holen. Blaine nippte an dem Kaffeebecher, der vor ihm stand. Es war der sechsundzwanzigste in dieser Nacht. Jail, das jüngste Mitglied der Kommission, ein käsiger Jüngling mit dunkler Hornbrille, hatte die ganze Nacht nichts anderes getan, als einen Kaffee nach dem anderen aus der Zirkuskantine heranzuschleppen.
Als die Indianerin kam, fuhr Blaine unwillkürlich von seinem Stuhl in die Höhe.
Bisher hatte noch niemand von den vernommenen Personen diese Ehre gehabt. Der Captain ließ es sich nicht nehmen, selbst einen Stuhl vor dem Vernehmungstisch für die Greisin zurechtzurücken. Die Indianerin setzte sich darauf nieder, ohne mit einem Blick oder Wort zu danken.
»Darf ich um Ihren Namen bitten?«, fragte Blaine höflich.
Die Alte brabbelte ein paar Laute aus ihrem zahnlosen Mund, die sich anhörten wie ein anhaltend gerolltes Gaumen-R, das ab und zu von einem dumpfen U unterbrochen wurde.
»Ah ja«, sagte Blaine und schob den Zettel, auf den er den Namen notiert hatte, dem schreibenden Stenografen hin. »Wo waren Sie, als der Schuss fiel?«
»Im Wagen«, erwiderte die Alte unerwartet klar.
»Allein?«
»Ich bin nie allein.«
»Wer war bei Ihnen?«
»Meine Freunde.«
»Würden Sie mir die Namen sagen?«
Die Indianerin sprudelte einen Wasserfall von gutturalen Lauten hervor. Blaine blinzelte verzweifelt mit den Augen. Stewy neigte sich von hinten an das linke Ohr des Captains und raunte ihm zu: »Ihr ganzer Wagen ist voll von ausgestopften Tieren. Ich habe sie eine Weile durchs Fenster beobachtet. Sie unterhielt sich mit den ausgestopften Kreaturen wie mit Menschen. Wahrscheinlich sind das ihre Freunde.«
Blaine atmete erleichtert auf. Man musste jedem Menschen die eine oder andere absurde Schwäche nachsehen, warum einer alten Frau nicht den Umgang mit ausgestopften Tieren?
»Haben Sie etwas beobachtet, was mit dem Mord in einem Zusammenhang stehen könnte?«
Die Alte schwieg. Blaine wiederholte seine Frage. Die Greisin verriet mit keinem Wimperzucken, dass sie die Frage auch nur verstanden hätte. Der Captain seufzte. Er versuchte es auf einem anderen Wege.
»Sie wissen, was geschehen ist?«
Der Schädel der Alten, der von einer pergamentähnlichen Haut umspannt wurde, neigte sich nach vorn. Vermutlich sollte dies ein Nicken sein. Aus ihrem zahnlosen Mund kamen undeutlich die Worte:
»Nscho-Tete weiß. Nscho-Tete weiß mehr als alle. Der böse Geist hat zugeschlagen. Zum zweiten Male.«
Blaine verdrehte die Augen. Es war frühmorgens, er hatte eine ganze Nacht voller Vernehmungen hinter sich, jetzt saß ihm eine alte Frau gegenüber, und dann fing sie auch noch an, Chinesisch zu reden.
»Der böse Geist«, murmelte er. »Hat der böse Geist zufällig zwei Beine und zwei Arme und einen Kopf?«
»Der böse Geist hat so viele Arme, wie er haben will. Wenn ihm zwei genügen, wird er zwei Arme haben. Wenn er tausend braucht, hat er sie.«
»Natürlich«, stimmte Blaine zu. Und er dachte, mit diesen Analphabeten ist es eine Plage. Abergläubisch, ohne logisches Denkvermögen und nicht imstande, fünf Minuten lang klare Fragen zu beantworten. Tausend Arme, dass ich nicht lache. »Haben Sie den bösen Geist gesehen?«, fragte er mit einem Schimmer von Hoffnung.
»Nscho-Tete sieht alles.«
»Zum-Teufel«, brach es, einer Explosion gleich, urplötzlich aus Blaine heraus. »Wenn Sie alles gesehen haben, dann verraten Sie mir gefälligst, wer die Marsari erschossen hat.«
»Der böse Geist, Sir.«
Blaine beugte sich vor.
»Können wir uns nicht auf einen Menschen aus Fleisch und Blut einigen?«, schlug er in komischer Verzweiflung vor. »Ich kann kaum den bösen Geist verhaften, das werden Sie doch einsehen.«
Die Alte schwieg wieder einmal. Blaine atmete tief und hörbar. Er spielte eine Weile mit seinen Zetteln.
»Hat der böse Geist ein Gewehr?«, fragte er dann.
»Der böse Geist hat nichts, aber er hat alles, wenn er es braucht.«
»Er hat nichts, er hat alles, er hat zwei Arme, er hat tausend Arme«, leierte Blaine herunter. »Wirklich diesem Kerl möchte ich mal begegnen.«
»Sie sind dem bösen Geist schon begegnet, Sir«, sagte die Indianerin.
Blaines Unterkiefer klappte herab. Sprachlos starrte er die Indianerin eine Weile an. Mit einem trockenen Geräusch klappte er den Mund zu. Seine Stirn legte sich in vier
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