0249 - Die Stunde der Bestien
Beppo. Er war geschminkt wie üblich, und er saß auf dem Manegenrand und schnitt dem Tiger Fratzen, die mich in jedem anderen Augenblick hätten schallend lachen lassen.
»Sind Sie verrückt, Beppo?«, rief ich zu ihm hinüber, während ich meine Pistole entsicherte.
Er antwortete nicht. Stattdessen erhob er sich plötzlich und tappte mit seinen ungeheuer großen Schlappschuhen einen Schritt auf den Tiger zu.
»Na, komm schon, du alter Esel«, krähte er. »Hast wohl Angst vor mir, he?«
Ich sah mich schnell um. Erst jetzt fielen mir die mit Eisenstangen bewaffneten Arbeiter auf, die einen Halbkreis um uns gebildet hatten. Aber niemand wagte, auch nur einen Schritt auf den Tiger zuzumachen. Es war, als wären sie alle plötzlich versteinert.
Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass man Großkatzen mit einer Pistole unmöglich erlegen kann. Man verwundet sie nur und macht sie dadurch umso gefährlicher. Das war der Grund, weshalb ich nicht wagte, auf das Tier zu schießen.
Aber ich wäre wohl auch nicht dazu gekommen. Denn gerade als ich meine Waffe entsichert hatte, machte Beppo wieder einen Schritt auf den Tiger zu und rief dabei in seiner krähenden Art, die er wohl unwillkürlich annahm, wenn er geschminkt und in seinem Kostüm war: »Verdammt, was soll ich denn noch anstellen, damit du dich mit mir beschäftigst? Soll ich dir vielleicht erst eine Ladung Sägemehl ins Gesicht werfen, he?«
Beppo sprang vom Manegenrand herab. Packte eine Handvoll Sägemehl und warf es dem Tiger entgegen. Wütend fauchte die Katze auf. Ich glaubte nicht anders, als Beppo sei verrückt geworden. Der Tiger, gereizt von dem Sägemehl und Beppos auffordernden Gebärden, duckte sich zusammen und schnellte auf den Clown zu wie ein Pfeil der von einer straff gespannten Sehne abgeschnellt wird.
Erst in diesem Augenblick verstand ich alles. Der Tiger hatte bis zu seinem Sprung das Kind verdeckt, das in der Loge saß und sich vor Angst nicht zu regen wagte. Beppo hatte den Tiger von dem Kind abgelenkt.
Ich sprang vor. Es war eine reine Reflexbewegung. Mein Verstand arbeitete erst viel später wieder. Ich sah den Tiger sich mit Beppo im Sand wälzen. Die Manege-Arbeiter stürzten mit ihren Stangen heran. Geschickt und offenbar für solche Fälle geschult drückten sie durch raffiniert gekreuzte Eisenstangen zuerst den rechten Hinterfuß des Tigers fest auf den Boden. Danach gelang es den ersten beiden, zwei Stangen zwischen dem Tiger und Beppo hindurchzuschieben. Im Nu schoben sich andere Stangen nach. Das Fauchen und Grollen der Raubkatze wurde stärker. Aber jetzt hatte sie bereits den Kampf verloren. Immer mehr Eisenstangen pressten sie fest auf den Boden.
Zusammen mit zwei anderen Männern zogen wir Beppo weg aus dem Bereich der mörderischen Tatzen. Er war blutüberströmt.
Mir fielen die geringen Kenntnisse ein, die ich einmal bei einem Kursus für Erste Hilfe erhalten hatte. Gleichzeitig schrie ich über meine Schulter hinweg: »Einen Arzt. Besorgt einen Arzt.«
»Bin ja schon da«, keuchte ein kleines altes Männchen dicht neben mir. Es musste ein Mann aus der Menge der Zuschauer sein. »Lassen Sie los, ich mache das schon.«
Ich räumte meinen Platz neben Beppo. Eine weinende Mutter zerrte gerade das kleine Mädchen aus der Loge. Außer dem Schreck war ihm nichts zugestoßen. Alles, was der Tiger einem Menschen antun konnte, hatte Beppo auf sich genommen.
Über das Weiß der Clown-Maske strömte rot und schimmernd im Licht der Scheinwerfer sein Blut. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten und kniete nieder. Während der Arzt sein Hemd ausgezogen hatte und Streifen davon abriss, lauschte ich auf das, was Beppo sagen wollte. Ich konnte nur ein paar Bruchstücke verstehen.
»… in Bloomington… bevor ich sterbe… die Orsini geliebt… aber…«
Er hustete schwach.
Ich legte meine Hand auf seine Stirn.
»Schon gut, Beppo«, sagte ich. »Schon gut. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sprechen Sie jetzt nicht weiter. Versuchen Sie nur, ganz ruhig zu atmen. Beppo… ganz ruhig…«
Ich merkte zu spät, dass er mich nicht mehr hören konnte. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Als ich mich aufrichtete, sah ich den Liliputaner mit großen Augen zu Beppos Füßen stehen. Er hatte keine Tränen. Sein Schmerz lag jenseits der Tränen.
***
»Acht oder neun Verletzte durch die Panik, davon zwei schwer«, berichtete Tec-Man White. »Aber jetzt sind alle draußen. Ich hatte keine andere Wahl, Chef, ich musste ein paar von
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