026 - Bote des Grauens
denn da“, tadelte der Arzt. „Sie als einer der erfahrendsten und angesehendsten Vertreter Ihrer Branche sollten doch mit jeglicher Art von Unfall vertraut sein, sollten alles darüber wissen. Und doch erzählen Sie da wahre Schauermärchen. Menschen sollen nur durch ihre Anwesenheit, ohne etwas zu berühren oder sich irgendwie schuldig zu machen.“
„Genau das ist es, was ich sage“, unterbrach ihn Raymond. „Ich kann Ihnen keine Gründe nennen, warum es so ist. Es sind ganz einfach keine bekannt. Wir wissen, dass es solche Menschen gibt wie Mr. McLean. Und es sind nicht wenige. Sie leben über die ganze Welt verstreut, in Dörfern und Städten, arbeiten auf den Feldern und in den Fabriken. Hunderte von Tausend, die ihr Leben führen ohne Argwohn zu erwecken und um die herum doch ständig Unfälle passieren. Manche, die nur Krankheiten und kleine Verletzungen auslösen, andere dagegen, die den grauenhaftesten Tod verursachen. Männer und Frauen, die auf keinen gemeinsamen Nenner zu bekommen sind und die doch alle das gleiche Resultat aufweisen, sie bringen Unheil.“
„Welche Beweise haben Sie?“ fragte der Präsident.
„Beweise?“ brummte Raymond. „Beweise? Ist es nicht genug, dass eine Versicherungsgesellschaft durch minutiöse Überprüfung von Fällen solche Unheilbringer identifiziert und isoliert, und es sich dann herausstellt, dass, obwohl scheinbar keinerlei Verbindung zwischen ihnen und der Kette von Unfällen besteht, diese sofort aufhören, wenn wir sie an einen anderen Ort gebracht haben. Entfernen Sie die Unheilbringer – und die Unfälle bleiben aus. So wird überall bei uns verfahren.“
„Verfügen Sie über Unterlagen?“ fragte der Präsident interessiert.
„Ganze Aktenschränke voll. In manchen Fabriken reduzierten wir die Unfallrate auf Null, nachdem die von uns identifizierte Person versetzt worden war. Es war nicht einfach, scheinbar‹ Unschuldige zu entfernen; es gab viele Proteste und viel Ärger. Aber wenn dann die Unfallkurve sofort sank, nachdem der von uns erkannte Unheilbringer isoliert war, erhielten wir auch sehr viel Dank und Entschuldigungen, dass man uns nicht gleich geglaubt hatte. Und Mr. McLean ist nur einer von unzähligen dieser Unheilbringer.“
Der Präsident betrachtete Clay nachdenklich. „Ich verstehe es einfach nicht. Wie kann ein so fähiger und tüchtiger Mann wie Sie…“
„Ich weiß, dass es stimmt, was Mr. Raymond behauptet. Ich kannte nur den richtigen Namen dafür nicht. Ich hatte mich getäuscht. Ich – ich dachte, irgendwelche höheren Mächte versuchten mich umzubringen, und dass ich, eingebildet wie ich war, den Tod durch Willenskraft abzuhalten vermöchte. Eine Zeitlang schien alles gut. Doch jetzt, die Passagiere … und Sie sagten, Evanston. Evanston, der alles hatte, was das Leben lebenswert macht …“
Die anderen hatten sich unbewusst von ihm zurückgezogen. Plötzlich fand Clay seine Beherrschung wieder. Er erhob sich. „Es ist besser, wenn ich gehe. Die Decke könnte auf Sie herabfallen oder das Gebäude zu brennen anfangen.“ Dann wandte er sich an Raymond. „Erwähnten Sie nicht, dass den ‚Unheilbringern’ selbst nichts passiert?“
„Soweit wir es in Erfahrung bringen konnten.“
„Um so schlimmer“, sagte Clay leise. Er schritt zur Tür und nahm seine Kappe. Als er sie aufsetzen wollte, erinnerte er sich. Er riss die Schwingen von der Mütze und die Streifen von den Ärmeln. Dann nahm er noch die Anstecknadel vom Revers und legte alles auf den Tisch. Mit weißem Gesicht blickte er in die stillen Gesichter, die ihn unsicher ansahen. Nicht einmal der Arzt sprach.
„Ich danke Ihnen, Mr. Raymond.“
„Ich wollte Sie nicht …“, begann Raymond.
Clay ließ ihn nicht aussprechen. „Ich meine es ernst, ich bin Ihnen wirklich dankbar. Leben Sie wohl meine Herren.“
Er schloss behutsam die Tür hinter sich.
Laura McLean legte die Zeitschrift aus der Hand und lauschte. Aber die Schritte auf der Strasse verloren sich, ohne vor dem Haus anzuhalten. Seufzend lehnte sie sich wieder im Sessel zurück und begann noch einmal mit der Seite, an der sie schon seit fünf Stunden las und von der sie bisher kein einziges Wort behalten hatte.
In der Halle tickte die alte Standuhr monoton vor sich hin. Tick – tack, tick -tack, tick-tack …
„Miss Laura, Sie müssen doch endlich etwas essen“, jammerte das Hausmädchen, das den Kopf durch den Türspalt steckte.
„Nein – nein. Nicht jetzt. Wenn er kommt
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