026 - Bote des Grauens
streichelte ihr seidiges Haar, als sie lautlos weinte. Er spürte, wie sein Entschluss wankend, wie er schwach wurde. Er hob ihr Kinn und blickte sie lange an. Dann griff er nach dem unberührten Glas, das sie ihm eingegossen hatte, und trank.
„Du wirst bleiben – heute Nacht?“ stammelte sie. „Wenigstens heute Nacht. Du bist so müde – ich fühle es.“
Er schwankte noch mehr. Er durfte sie nicht der Gefahr aussetzen. Jeden Augenblick konnte das Unheil zuschlagen und ihm den einzigen Menschen rauben, den er liebte.
„Bitte - nur heute“, flehte sie.
Er setzte sich wieder. Er hatte kein Recht sie zu gefährden, aber er hatte auch kein Recht, ihr das Herz zu brechen.
Sie strahlte ihn an, füllte das Glas noch einmal und eilte zur Tür hinaus. Als sie zurückkam, stellte sie eine große Platte mit Schinkenbroten, die er besonders gern mochte, neben ihn und zwang ihn, zu essen.
Nun, nachdem er sich damit abgefunden hatte, wurde ihm leichter. Er wusste jetzt, was er tun musste, noch in dieser Nacht. Aber sie würde es erst später erfahren.
Er bat sie ihm zu erzählen, und sie plauderte, welche Pläne sie mit der äußeren Renovierung des Hauses hatte, welche Fortschritte ihre Malerei machte, dass sie ihm ein Zimmer einrichten wollte, in dem er ganz ungestört sein würde.
Er hörte ihr zu und entspannte sich. Er war bemüht, nicht daran zu denken, wie bald schon das Unheil wieder zuschlagen würde.
Es war fast zwei Uhr nachts als sie schließlich eng umschlungen die Treppe hochstiegen und ins Bett sanken.
Irgendwann schreckte er hoch, schuldbewusst überhaupt hier geschlafen zu haben. Die Leuchtziffern seiner Armbanduhr verrieten ihm, dass der Morgen nicht mehr fern war. Die Straßenlampe an der Ecke warf ihren blassen Schein ins Zimmer, und Laura, das liebliche Gesicht von goldenem Haar umrahmt, schlief friedlich weiter. Er hauchte einen zärtlichen Kuss auf ihre Lippen und schlüpfte leise aus dem Bett und in sein Zimmer nebenan.
Er wählte einen Anzug und tastete nach einem Hut auf dem dunklen Schrankfach. Seine Hand berührte etwas Kaltes. Zögernd holte er es heraus. Die Webley war schmierig von dem öligen Tuch, in dem er sie weggepackt hatte, und er wischte sie mit einem Lappen ab. Seine Finger zogen fast automatisch das Magazin heraus und er sah, dass es noch voll geladen war. Entschlossen schob er es zurück und steckte die Waffe in die Hosentasche. Dann streifte er sich einen Mantel über und setzte einen Hut auf.
Auf Zehenspitzen huschte er an Lauras Tür vorbei. Die Stufen knarrten, als er hinunter schlich. Im Salon fand er ein Blatt Papier und einen Stift und er schrieb:
Es muss so sein, denn ich liebe Dich.
Morgennebel hing über den Strassen. Ein kalter Wind meldete Schnee an. Die Laternen erloschen, um der roten Scheibe im Osten zu weichen, aber sie war noch zu müde und verlieh der Welt nur einen düsteren Schein.
Clay hastete weiter. Er hatte ein festes Ziel, denn er wusste, was er tun musste. Laura würde darüber hinwegkommen – heilt die Zeit nicht alle Wunden? Er hoffte nur, sie würden sie nicht holen.
Der Park war ein grauer Schatten, still und verlassen. Clay zweigte in einen wenig begangenen Nebenweg ab und hielt bei einer einsamen, von Sträuchern im Halbkreis umgebenen Bank an. Er holte Papier und seinen Füllfederhalter aus der Tasche und schrieb:
In meiner Brusttasche ist ausreichend Geld für mein Begräbnis. Bitte unternehmen Sie nichts, mich zu identifizieren, Sie würden damit nur einem anderen Menschen großen Kummer bereiten.
Er holte die Pistole aus der Tasche, nahm das Magazin heraus und überprüfte den Abzug. Es konnte nichts schief gehen. Er steckte das Magazin zurück und ließ eine Patrone in die Kammer gleiten. Einen Blick vergönnte er noch dem östlichen Himmel, wo die Wolken langsam erröteten.
Er lächelte, als er den Lauf gegen die Schläfe presste. Er hatte Männer gesehen, die von einem 9-Millimeter-Geschoss getroffen worden waren. Der Tod würde rasch eintreten.
Entschlossen betätigte er den Abzug.
Nichts geschah! Er kontrollierte die Waffe verwirrt. Die Sperre war ausgerastet, aber der Abzug bewegte sich nicht. Er nahm die Patrone aus der Kammer und zog noch einmal das Magazin heraus. Der Hebel bewegte sich. Er steckte das Magazin zurück, ließ aber die Kammer leer. Wieder schnappte der Abzug ein. Zum zweiten Mal versorgte er die Kammer mit einer Patrone.
Zum zweiten Mal drückte er die Waffe an seine Schläfe und zog am
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