026 - Ich jagte das rote Skelett
brachte es nicht heraus. Ich schüttelte ihn.
»Was ist mit Ihrer Frau?« fragte ich eindringlich.
»Tot… Tot ist sie … Ermordet … Grauenvoll … Nicht wiederzuerkennen … In der Wohnung … O Gott, es ist so entsetzlich … Nora hat … Sie hat keine Augen mehr … Und ihr Gesicht – es war einmal so schön … Es ist von Brandwunden entstellt …«
Als der Mann das sagte, zog sich meine Kopfhaut schmerzhaft zusammen. Brandwunden! Ein rot glühendes Skelett! Arma! Es war nur diese Schlußfolgerung für mich möglich. Das bedeutete meiner Ansicht nach, daß es Arma gelungen war, den Keller zu verlassen.
Und der Polizist? War es ihm gelungen, zu fliehen? Oder war er Armas erstes Opfer geworden?
Ich konnte mich nicht teilen, mußte mich blitzschnell entscheiden und entschied mich für Nora. Ich mußte die Tote sehen.
»Wie ist Ihr Name?« fragte ich den verstörten Mann.
»William Landis.«
»Bringen Sie mich zu Ihrer Frau, Mr. Landis.«
»Ich muß die Polizei…«
»Später. Ich werde das für Sie erledigen«, sagte ich.
Wir betraten die noch unbewohnte Wohnhausanlage. Es stellte sich heraus, daß Landis der Hausmeister war. Er führte mich in seine Wohnung, in der sich ein Mann und eine Frau befanden. Sie waren ebenso verstört wie der Hausmeister. Einige Sekunden später sah ich, was diese Leute so sehr geschockt hatte. Ich stand vor der Leiche einer jungen Frau, und ich hatte das Gefühl, mir würde gleich übel werden.
Schreckliche Verletzungen bedeckten das Gesicht der Frau.
Das schlimmste aber war, daß die Tote keine Augen mehr hatte.
Warum hatte Arma sie ihr genommen?
***
Elissa Timson war reich und großzügig, aber auch streng und eigenwillig. Siebzig Jahre war sie alt, klein, ein wenig gebeugt, mit faltigem Gesicht und lebhaften Augen. Sie war als verschrobene alte Jungfer verschrien, und in ihrem Zimmer hingen Fotos, die sie als junges Mädchen zeigten und den Beweis dafür lieferten, daß sie niemals schön und anziehend gewesen war.
Vermutlich gingen deshalb das Leben und die Männer an Elissa Timson vorbei, ohne sie zu beachten.
Wenn man so aussieht, wie sie in jungen Jahren ausgesehen hatte, ist es leicht, einen hochmoralischen Lebenswandel zu führen.
Schließlich hatte sie niemals einen Mann in Versuchung geführt.
Vielleicht wäre ihr das damals gar nicht so unangenehm gewesen. Heute jedoch machte sie aus der Not eine Tugend und war stolz darauf, daß es keinen einzigen Mann auf der Welt gab, der sich rühmen konnte, sie jemals berührt zu haben.
Eine solche Moral verlangte Elissa Timson von jenen jungen Mädchen, die sie in ihrem kleinen Hotel für einen minimalen Unkostenbeitrag aufnahm. Wer sauber und anständig war und nicht wußte, wo er unterkommen konnte, wem andere Mieten zu hoch waren, begab sich zu Elissa Timson und wurde nicht von ihr abgewiesen.
Peinlichst achtete Miß Elissa Timson auf Zucht und Ordnung.
Herrenbesuche waren nicht erlaubt, und entdeckte die alte Dame auch nur den Schatten von Unmoral über einem ihrer Mädchen, so mußte dieses auf der Stelle ausziehen. Da gab es kein Pardon.
Lilly Boyd hatte das Pech, unschuldig in den Geruch der Verruchtheit zu gelangen.
Als das Elissa Timson zu Ohren kam, rief sie die »Sünderin« zu sich. Obwohl die alte Dame saß, bot sie Lilly keinen Platz an. Sie musterte das hübsche Mädchen mit dem langen kastanienbraunen Haar streng.
»Nun, Miß Boyd, was haben Sie mir zu sagen?« fragte sie spröde.
Eigentlich nichts, dachte Lilly, denn du glaubst mir ja doch kein Wort. Du hast mich schon verurteilt. Ich wette, dein Entschluß steht bereits fest: Ich bin für dein sauberes Haus nicht mehr tragbar und muß deshalb gehen.
»Ich bin unschuldig, Miß Timson«, sagte Lilly Boyd.
Die alte Dame nickte.
Ich wußte doch, daß du mir nicht glaubst, dachte Lilly ärgerlich.
»Schämen Sie sich nicht?« fragte Elissa Timson schroff. »Ein Mädchen in Ihrem Alter. Neunzehn sind Sie, nicht wahr?«
»Ja, Miß Timson.«
»Mit neunzehn Jahren waten Sie schon in so einem Sumpf.«
»Das ist nicht wahr, Miß Timson«, verteidigte sich Lilly, obwohl es keinen Zweck hatte, aber sie konnte, sie wollte diese Anschuldigung nicht auf sich sitzen lassen.
Die alte Dame winkte ab. »Es hat keinen Sinn, mir zu widersprechen, Miß Boyd. Ich weiß Bescheid, und ich muß sagen, daß ich von Ihnen sehr enttäuscht bin. Gerade von Ihnen hätte ich so etwas nicht erwartet. Als ich Sie vor einem halben Jahr in meinem Haus aufnahm,
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