0261 - Im Schatten des Würgers
sie sich als ein leidlich gebildetes Mädchen, dessen Moralbegriffe jedoch nicht mit denen der Allgemeinheit übereinstimmten. Das Dasein als Bardame schien ihr Spaß zu machen.
Als ich bezahlte, brach die dritte Morgenstunde an. Wir erhoben uns von unseren Plätzen und gingen zur Garderobe. Als ich dabei ztffällig einen Blick zum Ausgang warf, sah ich in der undeutlichen Beleuchtung zwei Figuren, die mir irgendwie bekannt vorkamen. Bevor ich genauer hinsehen konnte, waren die Gestalten nach draußen verschwunden.
Ich hätte schwören können, daß es Rodrigo Colon und John Bibbo waren. Ich sagte Florence nichts von meiner Wahrnehmung, beschloß aber, auf der Hut zu sein.
***
Florence bewohnte mit einem Mannequin zusammen eine Fünf-Zimmerwohnung in der 22. Straße. Die Wohnung lag im vierten Stock. Florence bestand darauf, mich ihrer Freundin vorzustellen. Ich sträubte mich und wies darauf hin, daß June — so hieß das Mannequin — bestimmt schon im Bett liege. Aber Florence wußte es besser: »Da müßten Sie June kennen, Jerry. Vor zwei Uhr morgens kommt sie nie nach Hause. Sie arbeitet nur nachmittags 'und schläft immer bis in den Tag hinein. Ich übrigens auch. Deshalb vertragen wir uns auch so gut.«
Mein Sträuben half nichts. Florence schleppte mich mit. Ich glaubte, meinen nächtlichen Besuch angesichts der Freundin verantworten zu können.
Der Lift war außer Betrieb. Florence ließ ein paar Freundlichkeiten hören, die dem Hausmeister galten; dann stiegen wir die Treppe empor. Wir waren etwas außer Puste, als wir im vierten Stock anlangten. Florence zückte ihr Schlüsselbund. Die Wohnungstür lag am Ende eines spärlich erleuchteten Ganges. Das Haus machte einen guten Eindruck, war gepflegt und sauber.
Ich war auf keine Überraschungen gefaßt.
Florence öffnete die Tür. Die Diele dahinter lag im Dunkeln.
»Sehen Sie, Jerry. June ist noch nicht einmal zu Hause.«
Ich sah, wie Florence zum Lichtschalter tastete. Ich vernahm ein leises Geräusch, das wie das Anknipsen klang. Aber die Diele blieb dunkel.
»Sonderbar«, sagte Florence. »Die Lichtleitung ist doch nicht etwa kaputt.«
Florence schritt leichtfüßig auf eine Tür zu, die — wie ich später feststellte — ins Wohnzimmer führte. Sie stieß die Tür auf, suchte wieder nach dem Schalter. Ein leichtes Klicken. Dann sagte Florence:
»Die Lichtleitung scheint defekt zu sein. Warten Sie einen Augenblick, Jerry. Ich habe Kerzen.«
Florence verschwand im Dunkel des Zimmers.
Ich schloß die Wohnungstür, zog mein Feuerzeug hervor und ließ es aufflammen. Mit dieser dürftigen Beleuchtung in der Hand trat ich ebenfalls in das Wohnzimmer.
Die Flamme blendete mich mehr, als daß ich etwas erkennen konnte. Ich nahm nur undeutlich wahr, wie Florence vor einem großen Glasschrank stand, ein Fach öffnete und darin herumkramte.
»Vielleicht ist Ihre Freundin doch schon…«
Ich brach ab, denn die Flamme meines Feuerzeuges begann zu flackern.
Der Luftzug war kaum spürbar. Ohne das Flackern hätte ich wahrscheinlich nicht bemerkt, daß seitlich hinter mir jemand stand. Ich vernahm im gleichen Augenblick einen rauhen Ton, so wie er entsteht, wenn zwei Bahnen rauhen Stoffes aufeinanderreiben.
Ich hielt das Feuerzeug in der Linken. Die Person mußte links hinter mir stehen. Meine Ausgangsposition war nicht ganz ungünstig.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen fuhr ich herum. In der Linken das Feuerzeug, den rechten Arm leicht angewinkelt, die Schulter zu einem Uppercut herabgezogen. Während ich herumwirbelte, federte ich in den Knien und duckte mich um eine Kopfeslänge.
Das war mein Glück.
Der seitlich angesetzte Hieb meines Gegners fegte um Haaresbreite über mich hinweg, riß mir den Hut vom Kopf und vermittelte mir einen leichten Lufthauch, den ich auf der Stirn spürte.
Vor mir stand eine mächtige Gestalt. Groß, breit und wuchtig. Über den Kopf hatte sich der riesige Mann eine Strumpfmaske gezogen, in die nur zwei Schlitze für die Augen geschnitten waren.
Mein Haken kam aus der vollen Körperdrehung. Mein ganzes Gewicht und die aus der Drehung gewonnene Zentrifugalkraft lagen dahinter.
Hinter meiner Faust saß die Gewalt eines Dampfhammers. Er öffnete die Faust, und ein schwerer Gegenstand fiel polternd zu Boden. Es klang wie ein Bleirohr und war dazu bestimmt gewesen, mir den Schädel zu zerschmettern. Mein Gegner kippte langsam nach vorn. Ich trat einen Schritt zurück, sonst wäre er mit dem verhüllten Gesicht genau
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