0266 - Der Grachten-Teufel
Kaltes. Erst jetzt öffnete sie die Augen. Vorbei war es mit der Träumerei. Sie starrte nach unten und sah die schmutzig grauen Wellen sowie die schillernden Ölflecke, die auf ihnen schwammen. Mehr nicht. Liane konnte nicht erkennen, wer oder was sie berührt hatte. Zudem hing ihr nackter Fuß nicht im Wasser. Er baumelte noch dicht über der Oberfläche, wobei sie hin und wieder mit der Hacke gegen die Bordwand stieß.
Aber sie hatte sich nicht getäuscht. Die Berührung war vorhanden gewesen, und Liane wollte Klarheit haben. So weit es ging, beugte sie ihren schmalen Körper nach unten, senkte dabei auch den Kopf und sah dicht unter der Oberfläche einen Gegenstand.
Er schimmerte durch. Seine Form war normal, trotzdem seltsam, weil er nicht in den Kanal gehörte.
Es war eine Hand!
Liane sah sie deutlich. Sogar die Finger konnte sie erkennen, weil sie gespreizt waren.
Nur eine Hand?
Das Mädchen schaute genauer nach. Es entdeckte auch den Arm. Er verschwand jedoch dicht hinter dem Gelenk in der Tiefe des Wassers.
Liane sagte sich zu recht, daß dort, wo ein Arm war, sich auch eigentlich ein Mensch befinden mußte.
Sie hatte sich nicht geirrt.
Der Mensch existierte. Er trieb aus den schlammigen Tiefen des Kanals der Oberfläche entgegen, und Liane konnte erkennen, daß der Wasserdruck die Kleidung aufgebläht hatte, so daß der Mann wie ein Ballon wirkte.
Ein Toter!
Das Mädchen beugte sich zurück. An ihr Boot war ein Toter angeschwemmt worden. Für sie gab es nach dieser Entdeckung keine andere Möglichkeit, aber Tote können nicht schwimmen.
Der vor ihr bewegte sich.
Er breitete seine Arme aus, teilte unter Wasser die Fluten, machte einen Buckel und war verschwunden.
Weg in die Tiefe!
Liane saß sekundenlang starr. Sie fühlte keine Angst, nur ein seltsames Gefühl, und sie dachte daran, daß der Schwimmer verschwunden war.
Er konnte nur unter dem Boot hergetaucht sein. Was wollte er da? Mit der Steuerbord-Seite lag der Kahn dicht an der brüchigen Kaimauer. Da paßte kaum eine Handbreite zwischen. Er konnte also kein bestimmtes Ziel haben. Es sei denn, er wollte auf den Grund tauchen.
Liane schüttelte den Kopf. Sie wollte es jetzt genau wissen und an der anderen Seite nachschauen. Vielleicht kletterte der komische Schwimmer dort an Land, obwohl er sich anstrengen mußte, denn die Kaimauer war hoch und steil.
Das Mädchen lief quer über den Kahn. Es war plötzlich aufgeregt und kümmerte sich auch nicht um die Wege, die seine Freunde mit ihm zusammen angelegt hatten. In ihrer Aufregung lief sie quer über ein Gemüsebeet und zerstörte auch einige Pflanzen.
Dann stand sie an der Steuerbordseite. Zwischen der Mauer und dem Bootsrumpf paßte wirklich kaum eine Hand dazwischen. Hier konnte der Kerl einfach nicht hoch.
Einer Intuition folgend lief Liane zum Heck des Kahns. Da gab es auch noch das alte Steuerhaus. Sie hatten es vor kurzem frisch angestrichen.
Die gelbe Farbe leuchtete hell.
Sie wand sich an dem Ruderhaus vorbei, blieb an der Reling stehen und starrte wieder nach unten.
Nicht weit entfernt wurde das Wasser aufgewühlt. Die Verantwortung trug ein kleiner Abwasserstrom, der aus einem runden Loch in der Mauer in den Kanal strömte und das sonst ruhige Gewässer schaumig quirlte.
Von dem Schwimmer entdeckte sie nichts.
Trotzdem blieb sie stehen, suchte auch die weitere Umgebung mit ihren forschenden Blicken ab, schaute wieder zu der Öffnung in der Kanalmauer und sah die Bewegung.
Er war noch da!
Unter Wasser befand sich sein Körper. Die Umrisse verschwammen, dennoch konnte Liane erkennen, daß der Schwimmer ein Ziel hatte.
Es war die Öffnung des Abwasserkanals!
Liane begriff nicht. Was wollte diese Person am Kanal? Und weshalb tauchte sie nicht auf, sondern blieb stets dicht unter der Oberfläche?
Zudem wunderte sich das Mädchen über die seltsamen Schwimmbewegungen. Sie wirkten überhaupt nicht flüssig und besonders bei den Beinen ziemlich abgehackt.
Beinen?
Da sah sie es genau. Nein, der Schwimmer bewegte nur ein Bein. Das andere konnte er überhaupt nicht bewegen, weil es nicht vorhanden war.
Er verließ sich auf ein Bein, auf seine rudernden Arme und kämpfte sich so bis an die Stelle vor, wo das Abwasser in den Kanal floß und die Flüssigkeit zu einem schmutzigen Schaumsprudel hochquirlte.
Der Schwimmer wurde erfaßt, um die eigene Achse gewirbelt, nach unten gedrückt und wieder in die Höhe geschoben. Er hatte es wegen seiner Behinderung besonders schwer,
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