027 - Das Gesicht im Dunkel
vorkommen.«
»Ihre Frau war gestern mit ihrer Schwester hier. Audrey aß bei mir, und Dora kam her, um sie abzuholen .«
»Aber an jenem Konzertabend war Audrey doch wohl nicht hier?« fuhr Elton mit bitterem Lächeln fort.
Marshalt antwortete nicht.
»Für die Gelegenheit wird es Ihnen wohl nicht gelingen, eine Ausrede zu erfinden«, fuhr Elton fort, indem er aufstand und nach Hut und Stock griff. »Sie sind ein schlauer Kerl, Marshalt - ein dunkler Kunde freilich, wenn ich nicht sehr irre. Ich denke, es wird nicht erforderlich sein, daß ich mich in den bei solchen Gelegenheiten üblichen Redensarten ergehe und Sie zum Beispiel darauf hinweise, wieviel angenehmer es ist, ein lebendiger Millionär zu sein, als - was anderes. Die Geschworenen würden Ihren Anverwandten vermutlich ihr Beileid aussprechen - eine Auszeichnung, die mir nicht zuteil werden dürfte. Aber es ist sehr viel angenehmer, einen Bericht über das Ableben anderer Leute zu lesen, als die Hauptrolle beim eigenen zu spielen. Guten Morgen, Marshalt!«
In der Tür blieb er stehen.
»Sie brauchen meine Frau nicht erst anzurufen. Ich habe unsern Apparat vorsichtshalber unbrauchbar gemacht, bevor ich das Haus verließ«, sagte er und nickte ihm ernst zu.
Es war ein strahlender Wintertag, und Audrey seufzte erleichtert auf, als sie ihre täglichen Schreibereien gegen Mittag erledigt hatte und den großen, schweren Brief in den Hotelbriefkasten steckte.
Wer war nur dieser Herr Malpas, und was für Geschäfte betrieb er? Mit Unbehagen dachte sie an die bevorstehende Unterredung, die für sie vielleicht ein enttäuschendes Ende nehmen würde. Aber noch mehr beschäftigte sie sich mit der Freundschaft, die zwischen ihrer Schwester und Marshalt zu bestehen schien. Sie war geradezu entsetzt. So etwas hätte sie trotz aller bösen Erfahrungen doch nicht von Dora erwartet. Wenn sie nur an sie dachte, wurde sie von Ekel befallen und bemühte sich, zu minder schmerzlichen Grübeleien überzugehen. Erst jetzt wurde ihr völlig klar, was sie schon immer dunkel empfunden hatte, nämlich, daß Dora von jeher anderswo hingehört hatte und für sie stets eine Fremde gewesen war.
Als sie zum Lunch hinunterging, überreichte ihr der Portier einen Brief, der soeben für sie abgegeben worden war. Sie erkannte die Handschrift auf den ersten Blick und las voller Staunen nachstehende Zeilen:
Ich verbiete Ihnen, Marshalt wiederzusehen. Der Antrag, den er Ihnen heute machen wird, muß abgelehnt werden.
Malpas
Staunend und ungehalten über diesen gebieterischen Ton steckte sie den Brief ein und begab sich in den Speisesaal. Sie war noch nicht mit dem Essen fertig, als ein Page ihr auch schon den angekündigten Brief von Marshalt überbrachte.
Er begann mit demütigen Entschuldigungen, erklärte, daß er sich sein rohes Benehmen niemals verzeihen werde, und schloß mit den Worten: ›Aber ich kenne Sie länger, als Sie ahnen, und liebe Sie heiß und aufrichtig. Wenn Sie einwilligen, meine Frau zu werden, so werde ich der glücklichste aller Sterblichen sein.‹
Ein Heiratsantrag! Empört stand sie vom Tisch auf, um ihre Antwort augenblicklich zu Papier zu bringen.
Mit Dank für das, was wohl ein Kompliment bedeuten soll, bedauere ich, Ihren Antrag nicht einmal in Erwägung ziehen zu können.
Audrey Bedford
»Senden Sie das durch Eilboten ab!« sagte sie zu dem Portier und kehrte zu ihrer unterbrochenen Mahlzeit zurück. Aber der Brief hatte einen Entschluß in ihr reifen lassen.
Sie fuhr in die Curzon Street, wo das Mädchen sie nicht erkannte und sie als ›Fräulein Audrey‹ meldete. Audrey folgte ihr die Treppe hinauf und stand im nächsten Augenblick der zornglühenden Dora gegenüber. »Nur ein paar Worte«, sagte sie.
Dora winkte dem Mädchen hinauszugehen. »Jede Sekunde, die du in meinem Hause verbringst, ist zuviel!« zischte sie. »Was willst du?«
»Ich möchte dich bitten, Marshalt aufzugeben, Dora.«
»Um ihn dir zu überlassen?«
»O nein, ich verachte ihn. Ich will nicht predigen, Dora -aber Martin ist nun doch einmal dein Mann, nicht wahr?«
»Ja, er ist mein Mann.«
Das klang so verzweifelt, daß Audrey Mitleid empfand und sich ihrer Schwester näherte. Aber die wich mit haßerfüllten Augen vor ihr zurück.
»Rühr mich nicht an - du Gefängnisdirne! Du willst, daß ich ihn dir überlasse - daß ich Marshalt aufgebe? Ah, wie ich dich hasse! Von jeher hab' ich dich gehaßt, und Mutter haßte dich auch! Marshalt aufgeben? Ich werde ihn
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