0285 - In den Tiefen von Loch Ness
überlebensgroßen stilisierten Raben, der ein Schwert in den Klauen und einen Zweig im Schnabel trug. Zamorra begann laut zu rufen, und Nicole schloß sich ihm an.
Aber niemand schien sie zu hören. Niemand kam, um das große Portal zu öffnen.
Zamorra sah Gryf an. Der schüttelte den Kopf. Nein, es war sinnlos, nach dem nächsten Dorf zu suchen, von dem nicht einmal der Druide wußte, wo es sich befand. Damit war auch kein Telefon in Sicht. Die Burg war die einzige Chance.
»Kannst du dich wieder auf einen Sprung konzentrieren«, wollte Zamorra leise wissen.
»Es ist, als ob mir jemand meine Druidenfähigkeiten aus dem Kopf gebrannt hätte«, sagte Gryf. »Nichts zu machen. Ich versuche es, aber ich fühle meine Pa-Kraft nicht mehr. Da ist kein Echo.«
»Und wenn wir hier vor dem Burgtor warten?«
»Bin ich bis morgen früh erfroren«, machte Gryf klar. »Die Nacht wird noch kälter als sie jetzt schon ist. Auch wenn wir Sommer haben, kannst du mit Frost rechnen. Und in meinem angeschlagenen Zustand friere ich noch schneller als sonst.«
»Kannst du ihm nicht mit dem Amulett helfen?« fragte Nicole. »Das hat doch bei anderen schon öfter geklappt…«
»Bleib mir mit dem verdammten Ding vom Leib«, wehrte sich Gryf. »Dem habe ich es doch überhaupt erst zu verdanken, daß ich hier liege. So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt in all den Jahrtausenden meines Lebens.«
Zamorra preßte die Lippen zusammen und sah wieder an der Mauer hoch, dann schaute er sich in der Umgebung um. Und plötzlich kam ihm ein Einfall.
Da stand ein großer, hoher Baum mit weit ausladenden Ästen. Wenn er von einem dieser Äste auf die Zinnen der Burgmauer springen konnte…? Immerhin wuchs dieser Baum direkt am Rand des Burggrabens und ragte bis zur Hälfte über diesen.
Es konnte klappen, aber auch fehlschlagen. Trotzdem wollte er es versuchen.
Wortlos wandte er sich dem Baum zu und betastete die Rinde. Sie war einigermaßen aufgerauht und bot seinen Fingerspitzen etwas Halt. Trotzdem kam er so nicht hinauf. Er konnte sich nicht gut genug abstoßen, und der niedrigste Ast war zu hoch für seine Reichweite. Ein Sprung aus dem Stand…? Nein, dazu reichte seine Kraft nicht mehr.
»Nici, hilfst du mir? Versuche mich soweit hochzuheben und abzustützen, daß ich an den Ast herankomme…«
Nicole begriff, was er plante, und schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das schaffst du doch nicht«, zweifelte sie kopfschüttelnd.
»Ich versuche es wenigstens.«
»Du wirst abstürzen.« Sie küßte seine Wange. »Laß es sein. Es muß eine andere Möglichkeit geben.«
»Hilf mir.«
Schließlich gab sie nach. Sie kannte Zamorra gut genug, um zu wissen, daß er kein unnötiges Risiko einging. Er würde nur springen, wenn er sich wirklich Chancen ausrechnete. Also unterstützte sie sein Bemühen, den untersten Ast zu erreichen. Es war ein haarsträubendes Unternehmen, aber nachdem Zamorra erst einmal Halt gefaßt hatte, zog er sich mit einem Klimmzug hinauf und balancierte dann dicht am Hauptstamm auf dem starken Ast.
Jetzt, wo er erst einmal oben war, war das weitere Vorankommen fast so einfach wie Treppensteigen.
Unterdessen versuche Nicole es unten noch einmal mit Rufen. Aber immer noch gab es keine Reaktion.
Zamorra balancierte jetzt auf dem Ast über den Burggraben hinaus auf die Mauer zu. Er stellte fest, daß er niedriger lag, als er von unten in der Dunkelheit geschätzt hatte.
Aber er konnte es schaffen. Langsam federte er in den Knien ein, balancierte sich mit den ausgebreiteten Armen aus und nahm Maß. Unter ihm gähnten acht oder neun Meter Abgrund, aber wenn er abstürzte, segelte er ins Wasser des Burggrabens. Und vielleicht war es tief genug, so daß er keinen Schaden nahm.
Er kam sich vor wie der Artist auf dem Drahtseil unter der Zirkuskuppel.
Jetzt. -Da sah er aus den Augenwinkeln rechts und links in der Dunkelheit Bewegung und sah Weißgraues schimmern, sah in Augenhöhlen rote Punkte glühen…
Skelett-Krieger des Leonardo deMontagne? Aber warum zeigte das Amulett ihre Nähe nicht an?
Er konnte seinen Absprung nicht mehr stoppen. Schon trug ihn sein Sprung durch die Luft auf die Burgmauer zu — während unten die Krieger aus der Nacht kamen…
Zamorras Schrei hallte durch die Nacht.
Er hatte sich versprungen… Die Mauerkante verfehlt…
***
Roderick MacRaven, einziger Sohn und damit Erbe von Titel, Sitz und Vermögen seines Vaters, hatte seine Schwester Angely aufgesucht. Angely MacRaven kauerte auf ihrem
Weitere Kostenlose Bücher