0285 - In den Tiefen von Loch Ness
Fußspitze berührte die abgetrennte Knochenhand, die raschelnd zu Staub zerfiel. »Es gefällt mir nicht, daß Sie ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt hier erscheinen, Und noch weniger, daß Sie über die Mauer geklettert sind.«
»Mir blieb keine andere Wahl. Niemand öffnete. Ich dachte bisher immer, die Schotten seien gastfreundlich, aber…«
Roderick MacRaven hob die Hand. »Ihren Ausweis. Ich will mich vergewissern, ob Sie wirklich der sind, für den Sie sich ausgeben.«
Kopfschüttelnd reichte Zamorra ihm seinen Paß. Aber MacRaven nahm ihn nicht entgegen. Zamorra selbst mußte die Seiten aufschlagen, und Roderick studierte sie im Zwielicht der Torbeleuchtung.
»Und die anderen?«
»Meine Gefährtin… und ein Freund. Er gehört zur gleichen Fakultät wie ich«, sagte Zamorra, dem einfiel, daß Gryf, der Druide, sich zuweilen als Parapsychologe ausgab. »Nicole Duval und Gryf ap Llandsrysgryf.«
»Ein Waliser?«
»Ja«, sagte Gryf.
»Müssen wir das alles hier draußen ausdiskutieren«, warf Nicole ein. »Gryf braucht Ruhe und Hilfe. Wenn Sie die Freundlichkeit besäßen, uns hereinzubitten…?«
Roderick und das Mädchen wechselten einen raschen Blick.
Dann nickte der junge Mann. »Schaden kann es jetzt ohnehin nichts mehr«, brummte er. »Also bewegen Sie sich mal schön vorsichtig vor uns her. Falls Sie etwas anstellen wollen, schieße ich Sie nieder.«
»Welch angenehme Vorstellung«, brummte Gryf trocken und sah Zamorra und Nicole auffordernd an. Sie nahmen ihn stützend zwischen sich. Nebeneinander näherten sie sich dem Eingangsportal des Hauptgebäudes.
»Wo steht überhaupt Ihr Wagen?« meldete sich erstmals das Mädchen im kurzen Kleid zu Wort. Zamorra drehte leicht den Kopf und lächelte.
»Ob Sie es glauben oder nicht: Wir sind zu Fuß hier.«
»Sie wohnen also im Dorf?«
»Oh, verflixt«, stöhnte Gryf auf. »Wetten, daß die beiden uns kein Wort glauben, wenn wir die Wahrheit erzählen?«
»Kommt auf die Art der Wahrheit an«, knurrte Roderick. Aber das Mädchen legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ich glaube, was wir heute erlebten, ist schon unwahrscheinlich genug. Wir sollten diesen Leuten wenigstens eine Chance geben - oder?«
»Man wird sehen«, brummte Roderick MacRaven orakelhaft.
***
Die Geduld des Knochenmannes MacRoy war unerschöpflich, nicht aber die seines Kontrollgeistes. Jener aus der Ferne, Leonardo deMontagne, bedrängte beide zum alsbaldigen Handeln.
Sir Glenn MacRaven, auf dessen Erscheinen der Knochenmann wartete, kam nicht. Das genügte dem Befehlsgeber in weiter Ferne nicht. Und so erteilte er einen weiteren Befehl.
MacRoy, das tödliche Skelett, verließ seine Lauerstellung und machte sich auf, das Unheil auszubreiten. Denn Leonardo deMontagne hatte die Geduld verloren.
Er wollte aus der Ferne die endgültige Entscheidung erzwingen.
Aber sein Befehl wurde durch das andere zwischengeschaltete Wesen, das MacRoy erst zu dem gemacht hatte, was er war, abgedämpft. Das war etwas, das Leonardo nicht kalkulieren konnte…
Doch zunächst einmal begann MacRoy mit einem neuerlichen Streifzug durch Raven’s Castle, auf der Suche nach menschlichen Opfern, um sie zu dem zu machen, was auch er längst war.
***
Sir Glenn hatte sein Vorhaben, das Skelett aufzustöbern und mit seiner Zaubersubstanz unschädlich zu machen, wieder aufgegeben, nicht allein deshalb, weil ihm zwei Zutaten fehlten und er nicht in der Lage war, sie zu beschaffen, ohne die schützenden Mauern zu verlassen.
Der andere, schwerer wiegende Grund hieß Zamorra.
Der Professor hatte es einfach darauf ankommen lassen und erzählt, warum und auf welchem Weg sie hierher gekommen waren. Schon nach dem fünften Satz hatten Roderick und Angely bedeutungsvolle Blicke gewechselt und die Gäste aufgefordert, ihre Geschichte dem Familienoberhaupt vorzutragen. Angely MacRaven schüttelte immer wieder den Kopf. Sie konnte es kaum fassen, daß es außer ihrem Vater und ihr auch noch andere Leute gab, die Nessys Existenz vorbehaltlos akzeptierten, und daß dieser so sympathisch aussehende Bursche, der sich Gryf nannte, mit dem Ungeheuer auch noch befreundet sein sollte, gab ihr fast den Rest.
Aber sie wußte, daß etwas an der Geschichte dran sein mußte. Immer wieder betrachtete sie die seltsame, handtellergroße Silberscheibe, die vor Zamorras Brust hing, aber noch öfter sah sie Gryf an und spürte, daß dieser Mann nicht log.
Er gefiel ihr.
Und je länger sie ihn betrachtete, desto mehr gefiel er
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