0285 - In den Tiefen von Loch Ness
wußte sie, daß sie einem schlimmeren Schicksal als dem Tod geweiht war.
Knochenmann MacRoy aber ließ sie jetzt los, wandte sich zur Tür und stakste davon, auf der Suche nach seinem nächsten Opfer. Wenn die Opfer, allen voran Sir Glenn, nicht zu ihm kamen, mußte er eben zu den Opfern gehen. So lautete sein Auftrag.
***
Zamorra ließ sich in dem kleinen Gästezimmer im Schneidersitz nieder und hielt das silbrige Amulett vorsichtig wie ein rohes Ei zwischen beiden Händen. Er war darauf trainiert, sich innerhalb weniger Augenblicke in Halbtrance zu versetzen, aus der er seine okkulten Kräfte schöpfte. Nur in jenem Zustand zwischen Bewußtlosigkeit und Wachsein konnte er seine Reserven in der Form anzapfen, wie er es mußte, um den geplanten Zauber zu bewirken.
Die Anwesenheit der anderen nahm er nicht mehr wahr.
Nicole scheuchte Roderick förmlich hinaus, der ihnen noch seine weitere Unterstützung aufdrängen wollte. Aber in diesem Augenblick wurde sie nicht gebraucht. Später vielleicht; dann mochte es reizvoll sein, sich Zahnbürste und Handtuch auszuleihen, um sich ein wenig frisch zu machen. Nicole sehnte sich nach einem heißen Bad und frischer Kleidung. Vielleicht würde ihr Angely MacRaven etwas leihen können; sie besaß genau Nicoles Größe.
Jetzt aber ging es noch um Wichtigeres.
Nicole blieb an der Tür stehen. Aufmerksam beobachtete sie Zamorra und verfolgte sein Tun mit wachen Sinnen. Sie war bereit, notfalls sofort einzugreifen. Sie spürte die magischen Schwingungen, die sich aufbauten und ihr Zentrum in Zamorra hatten. Noch drohte kein Gefahr.
Nicole hoffte, daß Zamorra es schaffen würde, Raven’s Castle zu »entseuchen«. Wenn ihn das Amulett nicht im Stich ließ…
Da bildete sich ein fahles Leuchten um Merlins Stern. Das Amulett hatte seine Tätigkeit aufgenommen…
Und Zamorras Lippen bewegten sich unaufhörlich, murmelten Zauberformeln einer fast vergessenen alten Sprache. Ein magisches Kraftfeld baute sich auf und wurde immer stärker.
Der Meister des Übersinnlichen hoffte, daß er es auch würde lenken können.
Er versenkte sich in die Vorstellung, mit seiner Magie das gesamte Schloß zu umfassen, es zu erfüllen. Er brauchte dazu ungeheuere Kraft, die er nicht aus sich heraus nehmen konnte. Merlins Stern mußte sie aufbringen. Zamorras eigene Parakraft war nur dazu da, die andere zu entfachen und zu lenken, als Katalysator gewissermaßen. Immer wieder jagte er seine befehlenden Geistesimpulse hinein. Und plötzlich sah er.
Es war kein Sehen im eigentlichen Sinn, sondern mehr eine Art Erfahrung. Von einem Moment zum anderen erfaßte er das gesamte Castle in all seiner Ausdehnung, in seiner Architektur. Zamorra wußte, wo sich jeder Raum befand, was sich in jedem Zimmer, in jedem Dachstübchen, in jedem Kellerloch befand. Er sah und spürte alles. Und er sah und spürte auch die Stellen, wo der Knochenmann seine Abdrücke hinterlassen hatte, deren Berührung jeden Menschen sofort mit dem zersetzenden Keim infizieren würde. Diese Punkte leuchteten fast wie Phosphor, und nur Zamorra mit der Kraft seiner Magie konnte sie sehen.
Ich muß ihre Struktur finden, um sie auflösen zu können, durchzuckte es ihn, und er konzentrierte sich stärker auf diese Stellen. Dadurch entging ihm, was in einem der Zimmer vorging - wo ein weiterer Mensch zu einem Skelett wurde. Ihm entging auch, auf welchen Wegen sich MacRoy jetzt durchs Castle schlich, auf der Suche nach neuen Opfern. Zamorra konzentrierte sich nur auf die dunklen, zersetzenden Energien.
Er begann eine Gegenkraft aufzubauen, die diese Stellen angriffen und auszulöschen begannen. Überall im Castle sprühten plötzlich Funken auf, begannen Lichtfelder zu flackern und in rasendem Zucken zwischen Hell und Dunkel zu wechseln.
Zamorra merkte nicht, daß er am ganzen Körper zitterte, daß ihm der Schweiß ausbrach und in kalten Bächen über seinen Körper lief. Er verstärkte seine Bemühungen immer weiter, ging förmlich im Amulett und seiner magischen Kraft auf.
Er kämpfte die verderbenbringenden Stellen nieder!
Und währenddessen geschah etwas, das Nicole jäh die Haare zu Berge stehen ließ. Sie wurde bleich, ihre Augen weiteten sich.
Verlor Zamorra die Kontrolle über sich selbst? Begann er nicht durchscheinend zu werden, sich aufzulösen?
Nicole schluckte heftig. Langsam schritt sie auf Zamorra zu. Ihre feinen Parasinne verrieten ihr, daß er sich tatsächlich zu verflüchtigen begann, daß er förmlich aufgesogen
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