0299 - Das Lagunen-Monstrum
gewesen war. Denn in diesem Leben war er ein völlig anderer Mensch. Er hatte seine Jugend in Rom verbracht, mit Professor Zamorra zusammen studiert, war einem Orden beigetreten und verwaltete jahrelang die geheimen Bibliotheken des Vatikan, bevor ihn der Ruf des Schicksals erreichte.
Man nannte ihn Pater Aurelian…
Professor Zamorra stieß einen erleichterten Seufzer aus, als die Schaltung umgehend zustande kam und sich Aurelian sofort meldete. Mit knappen, präzisen Worten erklärte er ihm die Situation in Venedig und die Umstände, die ihn hier in Lyon festhielten.
»Du hast Glück, daß ich gerade in Rom bin!« vernahm er Aurelians Stimme aus dem Mini-Lautsprecher so deutlich, als würde er neben ihm stehen. »Das ist von Venedig fast ebenso weit entfernt wie Lyon. Ich weiß nicht, ob es klappt, aber es ist ein Experiment der Weißen Magie, das man wagen könnte!«
»Erkläre mir, was du vorhast!« bat Professor Zamorra.
»Erklärungen würden tagelang dauern, mein Freund!« sagte Aurelian. »Denke nach, wo wir uns bei unserem letzten Zusammentreffen in Venedig am intensivsten im Kampf gegen die Mächte des Bösen zusammengefunden haben. Es muß ein Ort sein, wo dein Amulett und mein Brustschild vereinigt gewesen sind!«
»Im Wasser des Rio di Palazzo!« sagte der Xeister des Übersinnlichen nach einigem Nachdenken. »Wir sprangen damals aus dem Fenster des Dogenpalastes und die Monster, die Amun-Re geschaffen hatte, hinter uns her. Die kombinierte Kraft von Amulett und Brustschild machte für sie aus dem Wasser eine Substanz, wie sie für einen Menschen die Salzsäure ist.«
»Ja, ich erinnere mich!« ließ sich Pater Aurelian vernehmen. »Sie zerfielen, als sie im Wasser waren. Der Ort ist richtig und gut gewählt. Hast du heute schon gebadet, mein Freund?«
»Was soll diese Frage?« wunderte sich Professor Zamorra.
»Weil es nur eine einzige Möglichkeit gibt, dich auf weißmagischem Wege nach Venedig zu holen!« sagte Aurelian. »Alles weitere erzähle ich dir ein anderes Mal. Sonst ist es keine Überraschung mehr!«
»Was hast du vor?« fragte Professor Zamorra mit dunkler Ahnung.
»Nimm dein Amulett in beide Hände!« befahl Aurelian. »Nimm es jetzt, wie ich in diesem Moment meinen Brustschild ergreife, und versenke dich geistig hinein. Konzentriere dich auf das Wasser, in dem wir die Dämonen vernichtet haben.«
»Ich habe alles ganz plastisch vor mir!« flüsterte Professor Zamorra. »Mir ist, als würde sich das Wasser der Lagune in Merlins Stern widerspiegeln!«
»Das ist sehr gut!« lobte Aurelian. »Der Spiegel von Saro-esh-dhyn, mein Brustschild, zeigt mir das gleiche. Und nun sprich mit mir den Machtspruch Merlins, wenn ich bis drei gezählt habe. Wir müssen völlig synchron sprechen. Sonst wirkt der Zauber nicht. Bist du bereit, Zamorra?«
»Es kann losgehen!« sagte der Meister des Übersinnlichen.
»Also dann… eins… zwei… drei!«
»Analh natrac’h ut vas bethat - doc’h nyell yen vve!« hörten die Menschen in der Halle des Flughafens von Lyon eine leise Stimme. Im selben Augenblick erklangen die gleichen Worte tief im Keller der vatikanischen Paläste, wo die geheimen Schriften der verbotenen Bibliothek gelagert sind.
Als die Menschen in Lyon herumfuhren, sahen sie Professor Zamorra verschwinden.
Im selben Moment wurde auch Pater Aurelian aus seiner kleinen Studierstube entrückt. Amulett und Brustschild rasten aufeinander zu und nahmen ihre Träger mit sich.
Im Wasser des Kanals vor dem Dogenpalast trafen sie zusammen.
Professor Zamorra schluckte Wasser. Unbewußt stieß er sich ab und gelangte zur Wasseroberfläche. Im selben Moment tauchte Pater Aurelians Charakterkopf aus den Fluten auf.
»Schön, daß man sich mal wieder trifft!« lachte der Pater…
***
»Es war eine Schnapsidee, daß wir ausgerechnet im Wasser gelandet sind!« sagte Professor Zamorra, nachdem sie unter dem Gejohle der Touristen zum nächsten Ufer geschwommen und hinaufgeklettert waren. Niemand hatte gesehen, daß sie aus dem Nichts gekommen waren. Infolgedessen nahm man an, daß sie in totalem Weinrausch in den Kanal gefallen waren.
Gut, daß Aurelian in seiner geheimen Studierstube keine Kutte getragen hatte. Der dezente graue Anzug war natürlich nicht mehr zu gebrauchen, und auch Professor Zamorras blütenweißer Anzug war durch Venedigs Dreckwasser in Mitleidenschaft gezogen worden.
Das Wasser lief in Strömen aus den Textilien. Während Zamorra noch vor sich hinschimpfte, zog ihn
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