03 - Auf Ehre und Gewissen
herausstellte, daß alle Anschuldigungen der Wahrheit entsprachen. Geld, Kleider, Füllfederhalter, Bleistifte, Andenken von zu Haus, besondere Leckerbissen, die man aus den Ferien mitgebracht hatte - Preston hatte alles gestohlen, was ihm unter die Finger gekommen war, ganz gleich, ob er es gebrauchen konnte oder nicht.
Und Chas war, nachdem die Krankheit seines Bruders offenkundig geworden war - und es war eine Krankheit, das wußte Chas -, davongelaufen. Er war geflohen vor der Not seines Bruders, vor seiner Scham und seiner Schwäche. Nur eines war ihm damals wichtig erschienen, sich selbst von der Schande reinzuhalten. Er hatte sich in die Arbeit gestürzt, in seine Bücher vergraben und jeden Anlaß, jede Gelegenheit, bei der der Name seines Bruders oder seine törichten Vergehen hätten erwähnt werden können, gemieden. So hatte er Preston den Flammen überlassen. Und war selbst mitten ins Feuer hineingelaufen, gerade dort, wo er es am wenigsten erwartet hatte.
Sissy, glaubte er, wäre seine Rettung, der einzige Mensch in seinem Leben, bei dem er vollkommen ehrlich, ganz er selbst sein konnte. In den Monaten, die Prestons Ausschluß von der Schule folgten, hatte Sissy Chas in seiner ganzen Schwäche, aber auch in all seiner Stärke kennengelernt. Sie hatte von seinem Schmerz und seiner Verbitterung erfahren, von seiner eisernen Entschlossenheit, für Prestons Versagen Wiedergutmachung zu leisten. Immer war sie, Ruhe und Heiterkeit ausströmend, für ihn da gewesen. Und Chas, der sich ihr immer mehr geöffnet hatte, ihr immer mehr Nähe erlaubt hatte, hatte nicht gesehen, daß auch sie schon bedroht war, dazu verurteilt, vom Feuer zerstört zu werden.
Ja, die Mauer nebenan hatte in der Tat Feuer gefangen. Das Feuer hatte sich ausgebreitet. Es war an der Zeit, den Brand zu löschen. Aber wenn er es tat, würde er auch sich selbst auslöschen. Wenn es nur um sein eigenes Leben gegangen wäre, hätte er gesprochen, ohne auf die unvermeidbaren Folgen zu achten. Aber seine Pflichten waren nicht auf Bredgar Chambers beschränkt.
Er sah die Geschwister seiner Eltern an jenem Morgen im vergangenen Jahr, als sie Prestons Sachen in ihren Wagen gepackt und sich bemüht hatten, nicht zu zeigen, wie tief ihre Bestürzung und das Gefühl der Erniedrigung waren. Sie hatten einen solchen Schlag, wie er sie durch Prestons Sturz getroffen hatte, nicht verdient. Das war Chas' Überzeugung gewesen, und darum hatte er beschlossen, das, was sie erlitten hatten, wiedergutzumachen: Freude statt Kummer; Stolz statt Erniedrigung. Er hatte geglaubt, das schaffen zu können, denn er war ja nicht Preston. Nein, er war nicht Preston.
Aber noch während er sich das vorsagte, drangen Wörter wie finstere Zauberformeln in einem Alptraum in sein Bewußtsein. Er hatte sie erst an diesem Morgen gelesen, während er auf den Direktor gewartet hatte; jetzt sah er sie wieder vor sich.
Akrozephalie. Syndaktylie. Kranznaht. Er hörte Sissy weinen, und wollte es nicht. Er fühlte sich schuldig, und wollte es nicht. Wieder stand er vor einer brennenden Mauer und versuchte vergebens sich einzureden, daß sie ihn nichts anging.
Harry wußte sofort, was ihn erwartete, als er in das Zimmer des Direktors trat. Nur Mr. Lockwood und die beiden Kriminalbeamten von New Scotland Yard waren da. Auf dem Tisch im Erker lag Matthew Whateleys Socke. Jemand hatte sie von innen nach außen gekehrt, und selbst von der Tür konnte Harry das kleine weiße Stoffquadrat mit der schwarzen Zahl 4 drauf sehen.
Er hatte gehofft, Miss Roly würde die Socke der Polizei geben. Er hatte es sogar erwartet. Aber er hatte nicht damit gerechnet, daß Mr. Lockwood etwas erfahren würde, und er hatte sich nicht vorgestellt, daß für ihn mit der Übergabe von Matthew Whateleys Strumpf noch lange nicht alles vorbei sein würde. Jetzt, wo er hier war, wo ihm der große blonde Mann die Hand warm und fest auf die Schulter legte und ihn zu einem Stuhl führte, wünschte Harry, er hätte die Socke behalten oder weggeworfen oder einfach liegengelassen und sich darauf verlassen, daß ein anderer sie finden und abgeben würde.
Alle diese Wünsche waren fruchtlos und kamen zu spät. Harry wurde bald heiß, bald kalt, als der Kriminalbeamte ihn aufforderte, sich zu setzen.
Er hielt den Blick auf seine Hände gerichtet, die zu Fäusten geballt auf seinem Schoß lagen. Auf dem rechten Daumen, sah er jetzt, hatte er einen Tintenfleck, der wie ein Blitz geformt war. Er sah fast aus wie eine
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