03 - Auf Ehre und Gewissen
hinunterzurufen. Er mußte den kleinen Harry Morant zum Sprechen bringen.
»Ich möchte Harry das hier oben zeigen, Sergeant«, sagte er. »Helfen Sie ihm die Leiter hinauf.«
Sie nickte und holte den Jungen. Die Hand auf seiner Schulter, führte Lynley ihn in die Kammer und blieb gleich innerhalb der Tür mit ihm stehen. Er hielt den Jungen, der sich unter seinen Händen so zart und klein anfühlte, fest an sich gedrückt, während er sprach.
»In diese Kammer hat man Matthew gebracht«, sagte er. »Jemand hat ihn hierher gebracht, Harry, vielleicht nachdem er ihm erklärt hatte, er müsse mit ihm reden; vielleicht unter dem Vorwand, reinen Tisch machen zu wollen; vielleicht aber auch, nachdem er ihn vorher bewußtlos gemacht hatte, so daß er sich gar keinen Vorwand mehr auszudenken brauchte. Aber es steht fest, daß er Matthew hierher gebracht hat.«
Lynley drehte den Kopf des Jungen so, daß er die Ecke im Raum sehen konnte, wo der Staub auf dem Boden am stärksten verwischt war. »Ich vermute, er lag gefesselt da drüben in der Ecke. Siehst du die vielen Zigarettenstummel auf dem Boden? Er hatte Verbrennungen von Zigaretten am ganzen Körper. Sogar im Innern seiner Nase und an den Hoden. Ich nehme an, du hast das gehört. Kannst du dir vorstellen, wie das für ihn gewesen sein muß - der Schmerz und der Geruch seiner eigenen brennenden Haut?«
Harry zitterte so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er schnappte nach Luft.
»Du kannst den Urin riechen, nicht wahr?« fuhr Lynley fort. »Und den Kot. Man hat Matthew sicher nicht erlaubt, zur Toilette zu gehen. Man ließ ihn einfach liegen. Das ist der Grund, warum es hier so riecht.«
Harry warf den Kopf zurück und drückte ihn an Lynleys Magen. Er wimmerte unaufhörlich vor sich hin.
Lynley berührte die Stirn des Jungen. Sie war sehr heiß.
»Das sind alles nur Vermutungen von mir, Harry, aber ich denke, das meiste entspricht der Wahrheit. Aber nur du kannst uns sagen, wer es ihm angetan hat.«
Harry schüttelte heftig den Kopf.
»Matthew wußte, daß du mißhandelt wurdest. Aber er war nicht wie die anderen Jungen, nicht wahr? Er war nicht einer von der Sorte, die einfach wegschauen und froh sind, daß sie nicht die Geplagten sind. Er war ein Junge, der Grausamkeit nicht dulden wollte. Außerdem warst du sein Freund. Es wäre ihm nicht eingefallen, seinem Freund nicht zu Hilfe zu kommen. Darum überlegte er sich, wie er der Quälerei ein für allemal ein Ende bereiten könnte. Er brachte in deinem Schlafraum ein Abhörgerät an. Er nahm ein Band auf. Ich vermute, er hat das vor drei Wochen am Freitag nachmittag gemacht, nachdem er sich krank gemeldet und vom Sport hatte befreien lassen. Da hatte er genügend Zeit, um sein Gerät anzubringen und auszuprobieren, ohne daß jemand etwas davon wußte - außer dir natürlich. Und als dann alles vorbereitet war, brauchtest du nur noch auf den nächsten nächtlichen Besuch zu warten. Denn es war doch immer nachts, nicht wahr? Solche Sachen passieren immer nachts.«
Die zuckenden Schultern verrieten Lynley, daß der Junge zu weinen begonnen hatte.
»Nachdem das Band aufgenommen worden war, hörten die Mißhandlungen auf, nicht wahr? Sie konnten nicht weitergehen. Der Spuk war vorbei, und alle waren sicher. Hätte der Bursche, der dich gequält hat, auch nur ein einziges Mal wieder so etwas versucht, dann wäre das Band an den Direktor gegangen, und der Junge wäre hier an der Schule erledigt gewesen. Ich glaube allerdings nicht, daß Matthew den Ausschluß des Jungen wirklich wollte, so sehr dieser ihn verdient hätte. Er wollte dem Jungen wahrscheinlich nur einen Schrecken einjagen und ihm die Chance geben, sich zu ändern. Darum gab er die Kassette nicht dem Direktor, habe ich recht? Er gab sie jemand anderem. Aber er wußte nicht, daß für einen Jungen, der andere quält, dieses Gefühl, andere fertigmachen zu können, etwas ganz Wichtiges ist. Es ist eine richtige Sucht. Und damit der Junge weitermachen konnte, brauchte er die Kassette. Und er brauchte die Kopie, die Matthew davon gemacht hatte. Um beides zu bekommen, schleppte er Matthew hier herauf.«
Harry schrie auf und stampfte mit den Füßen auf den Boden.
»Einer muß endlich reden«, sagte Lynley. »Matthew hat auf seine Weise versucht, was zu tun, aber es klappte nicht. Man erreicht nichts mit halben Maßnahmen, wenn es darum geht, die Wahrheit aufzudecken, Harry. Ich hoffe, das wenigstens siehst du ein. Matthew ist tot,
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