03 - Auf Ehre und Gewissen
wurden. Da bin ich schnell mitgefahren. Es erschien mir das Beste.«
»Was ist denn passiert?«
Barbara berichtete ihnen kurz von dem Überfall auf Jean Bonnamy. »Irgendein Kerl ist mit dem Rechen auf sie losgegangen. Er zerfetzte ihr das ganze Gesicht und den Hals. Sie hat einen Schädelbruch und liegt jetzt in Horsham im Krankenhaus. Ihr Vater hat einen Schock. Sie war in den Schuppen hinausgegangen, um Holz zu holen, und als sie nicht wiederkam, rief er die Polizei an. Die Frau war noch nicht wieder bei Bewußtsein, als ich abfuhr.«
»Was sagen die Ärzte?«
Barbara zuckte die Achseln. »Heikel, Inspector. Kann sein, daß sie durchkommt, kann aber auch nicht sein.«
»Mein Gott.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte Barbara.
Lynley warf ihr einen scharfen Blick zu, als er den Unterton in ihrer Stimme hörte. »Was ist denn noch?«
»Als ich wieder hierher kam, sah ich Ihren Wagen stehen und machte mich auf die Suche nach Ihnen. Im Speisesaal herrschte allgemeine Aufregung. Chas Quilter ist verschwunden. Seit ein Uhr hat ihn kein Mensch mehr gesehen.«
»Er scheint gleich nach dem Mittagessen verschwunden zu sein«, sagte Barbara, während sie mit aufgespannten Schirmen durch den Regen zum Haus Ion gingen, langsam, damit St. James Schritt halten konnte. »Zumindest behaupten alle, sie hätten ihn nachher nicht mehr gesehen.«
»Und wer hat ihn zuletzt gesehen? Wer hat noch mit ihm gesprochen?«
»Brian Byrne. Kurz vor der Chemiestunde bat Chas ihn, Emilia Bond auszurichten, er sei auf die Krankenstation gegangen, um sich etwas gegen seine Kopfschmerzen geben zu lassen. Nach der Stunde ging Brian dorthin, um nach Chas zu sehen, aber der war nicht dort.«
»Und er hat nicht sofort Alarm geschlagen, obwohl gerade erst die Sache mit Matthew passiert ist?«
»Offenbar versuchte er in den folgenden Stunden erst einmal auf eigene Faust, Chas zu finden. Er behauptet, Chas hätte persönliche Probleme gehabt - er weiß entweder nicht, worum es sich genau handelt, oder er wollte es nicht sagen. Ich hab dazu meine eigene Theorie. Wie dem auch sei, er startete seine eigene Suchaktion. Er sagte erst was von Chas' Verschwinden, als es beim Abendessen auffiel. Ich vermute, er wollte ihn decken, in der Hoffnung, daß er rechtzeitig wieder zurückkommen würde.«
»Und wo hat er Chas zuletzt gesehen?« fragte St. James.
»Vor dem Speisesaal. Brian ging hinaus und traf Chas an der Treppe. Der hatte dort auf ihn gewartet. Er behauptete, er hätte Kopfschmerzen, und Brian sagt, er hätte miserabel ausgesehen. Aber es kann sein, daß er das nur sagt, um ihn jetzt zu decken. Vielleicht auch, um sich selbst zu schützen. Wenn er den Verdacht gehabt haben sollte, daß Chas abhauen wollte, hätte er das einem Lehrer melden müssen.«
»Und was hat Lockwood unternommen?« fragte Lynley.
Ein heftiger Windstoß hätte Barbara beinahe ihren Schirm aus der Hand gerissen. Sie zog ihn tiefer und richtete ihn gegen den Wind. »Er hat genau wie alle anderen erst beim Abendessen gemerkt, daß Chas verschwunden ist.«
»Und ausgerechnet heute abend tritt der Verwaltungsrat zusammen. Ein Schüler ermordet und jetzt ein zweiter verschwunden. Eine totale Doppelung der Ereignisse.«
»Als ich ihn vorhin sah, schäumte er. Ich glaube, er würde Sie am liebsten einen Kopf kürzer machen, Inspector.« Sie mußte schreien wegen des starken Sturms.
»Die Umstände sind die gleichen, das stimmt - erst auf die Krankenstation und dann verschwunden. Aber ich glaube trotzdem, daß sich die Sache bei Quilter anders verhält als bei Matthew Whateley. Ich habe mich mit Daphne unterhalten.«
Sie traten durch die Osttür ins Haus Ion und gelangten direkt in den Aufenthaltsraum. Sie schüttelten ihre Schirme aus, legten die Mäntel ab und verteilten sie über diverse Stühle. St. James knipste eine Lampe an, Lynley schloß die Tür zum Korridor. Barbara drückte sich das nasse Haar aus und stampfte mit den Füßen, um sie zu wärmen.
»Daphne hatte anscheinend gestern abend einen zweiten Zusammenstoß mit Clive Pritchard. Er lauerte ihr auf, als sie von der Bibliothek zum Haus Galatea ging, sprang plötzlich hinter einem Baum hervor und erschreckte sie halb zu Tode. Natürlich hat er sie wieder gepackt und sie gründlich spüren lassen, was für ein wohlausgestatteter Knabe er ist. Ähnlich wie wir's neulich vor der Deutschstunde beobachtet haben. Da nahm sie natürlich kein Blatt vor den Mund, als ich mit ihr sprach.«
»Und?«
Barbara
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