03 - Auf Ehre und Gewissen
zwischen dem, was sie in den letzten zwanzig Minuten über Chas Quilter erfahren hatten, und dem, was er selbst ihnen - flüchtig und andeutungsweise - immer wieder von sich selbst gezeigt hatte. Er schlug das medizinische Lehrbuch auf.
»Simon«, sagte er, »weißt du was über eine Krankheit namens Apert'sches Syndrom?«
»Nein. Warum?«
»Ich dachte nur ...« Lynley überflog die Seite, auf der Chas Quilter das Buch aufgeschlagen hatte, als sie an diesem Morgen in sein Zimmer gekommen waren. Was da stand, war verwirrend. Lynley versuchte sich über die Bedeutung des Geschriebenen klar zu werden, als St. James die Fotografie auf dem Fensterbrett aufhob.
»Tommy!«
»Augenblick!« Sein Auge flog über den Text. Kranznähte. Syndaktylie. Akrozephalie. Bilaterale Kranznahtsynostose. Es war, als lese man Griechisch. Er blätterte um. Und sah die Fotografie. Und wußte alles über Chas Quilter.
»Tommy!« sagte St. James wieder und faßte Lynley, beim Arm.
Lynley sah auf. Das Gesicht des Freundes war angespannt. In der Hand hielt er das Foto vom Fensterbrett.
»Das Mädchen«, sagte St. James. »Ich kenne es.«
»Woher?«
»Ich habe sie am Sonntag gesehen. Deborah hat von ihrem Haus aus die Polizei angerufen. In Stoke Poges, Tommy. Sie wohnt in dem Haus gegenüber der Kirche St. Giles.«
Lynley starrte ihn an. »Wer ist sie?«
»Sie heißt Cecilia. Cecilia Feld.«
Lynleys Blick glitt zu der Wand mit den gerahmten Zitaten. »Ah, love, let us be true to one another.« Und darunter die kleine Signatur. Sissy. Cecilia. Die Chas die Treue hielt. Die in Stoke Poges auf ihn wartete.
Sie setzten Barbara in Horsham vor dem Krankenhaus ab. Sie wollte dort bleiben in der Hoffnung, daß Jean Bonnamy das Bewußtsein wiedererlangen und den Namen des Eindringlings nennen würde, der sie überfallen hatte.
Dann fuhren Lynley und St. James durch den strömenden Regen weiter nach Stoke Poges. Sie kamen nur langsam voran, da sich infolge der heftigen Regengüsse der Verkehr immer wieder staute. Lynley, der sich unterwegs von St. James das Wenige berichten ließ, was dieser über Cecilia Feld und ihre Aussage vor der Polizei wußte, befiel ein Gefühl der Dringlichkeit, das immer stärker wurde. Es war nach acht, als sie endlich vor dem Haus gegenüber der Kirche anhielten.
Lynley klemmte das medizinische Fachbuch unter den Arm, das er von Chas Quilters Schreibtisch genommen hatte, und folgte St. James durch den Regen zur Haustür.
Das Haus wirkte dunkel. Nur durch die Milchglasscheibe der Haustür fiel gedämpftes Licht. Auf ihr erstes Klopfen rührte sich nichts. Auch nicht, als sie ein zweites Mal nachdrücklicher klopften. Erst als Lynley die Türglocke entdeckte - fast verborgen unter dicht wucherndem wilden Wein -, gelang es ihnen, jemanden im Haus auf sie aufmerksam zu machen. Die Tür wurde vorsichtig einen Spalt aufgezogen.
Sie war klein und zum Umblasen zart, und sie sah krank aus. Aber Lynley erkannte sie sofort. Er zeigte ihr seinen Ausweis. »Cecilia Feld?« Als sie stumm nickte, sagte er: »Ich bin Thomas Lynley von der Kriminalpolizei. Mr. St. James kennen Sie schon, glaube ich. Vom letzten Sonntag. Dürfen wir eintreten?«
»Sissy? Wer ist es denn, Kind?« Die Frauenstimme drang aus einem Flur links der Haustür zu ihnen. Schritte näherten sich. Eine zweite Gestalt erschien an der Tür, größer als Cecilia, eine grauhaarige, kräftige Frau mit großen, zupackenden Händen. Sie nahm Cecilia bei der Schulter und zog sie von der Tür zurück.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte sie, vor das Mädchen tretend, und schaltete ein Licht ein.
Obwohl es noch früh am Abend war, waren beide Frauen in wollenen Schlafröcken und warmen Hausschuhen. Die ältere Frau war gerade dabei gewesen, sich die Haare aufzudrehen; ihr Kopf wirkte wie verformt, knubbelig auf der einen Seite, glatt und gerade auf der anderen. Sie sah sich Lynleys Dienstausweis aufmerksam an, während Cecilia sich mit verschränkten Armen hinter ihr an die Wand lehnte. Aus einem Zimmer im Hintergrund fiel bläuliches Licht. Ein Fernsehapparat, bei dem der Ton ausgeschaltet war, sagte sich Lynley.
Die Frau gab Lynley seinen Ausweis zurück und öffnete die Tür ein Stück weiter. Sie stellte sich als Norma Streader vor, wobei sie mit Betonung »Mrs. Streader« sagte, und führte sie in das Zimmer, aus dem das bläuliche Licht schimmerte. Sie knipste zwei Lampen an und schaltete den Fernsehapparat aus.
Nachdem sie sich auf der chintzbezogenen
Weitere Kostenlose Bücher