03 - Auf Ehre und Gewissen
schüttelte den Kopf. »Sie wußte von der Dachkammer, aber sie weiß nicht, in welchem Haus. Sie weiß nur, daß es den Raum irgendwo gibt. Das ist unter den Schülern offenbar überhaupt kein Geheimnis. Über die alten Mansarden existieren eine Menge Gruselgeschichten - daß es da spukt und nachts die bösen Geister kommen, der übliche Quatsch eben.«
»Von der Verwaltung zweifellos gefördert, um die Schüler davon abzuhalten, dort herumzustöbern.«
»Ja, wahrscheinlich«, stimmte Barbara zu. »Aber in diesem Fall hat's nicht gewirkt. Wenn man Daphne glauben darf, gab es mindestens einen Jungen, der die Dachkammer in Kalchas in den letzten zwei Jahren regelmäßig benützte. Das Problem ist nur, daß der Knabe nicht Clive Pritchard heißt, obwohl Daphne deutlich anzumerken war, daß sie ihn liebend gern hingehängt hätte.«
»Wer war es dann?«
»Chas Quilter.«
»Ach -«
»Genau«, sagte sie. »Ich gebe zu, ich war sicher, daß Clive unser Mann sein würde. Aber ich hätte wahrscheinlich genauer auf Chas achten sollen. Daphne machte ja erst gestern eine Bemerkung über seine Heuchelei. Mehr sagte sie da nicht. Aber jetzt, wo Chas verschwunden ist, hat sie ein bißchen mehr rausgelassen. Er hat sich da oben anscheinend zwei-, dreimal die Woche mit einem der Mädchen vergnügt, vor allem im letzten Sommerhalbjahr. Das Mädchen ist nicht mehr hier, und Daphne konnte mir nicht sagen, ob Chas schon einen Ersatz gefunden hat. Aber nach allem, was ich bisher gesehen hab, wäre so ziemlich jede der Damen hier bereit, den Ersatzdienst anzutreten.«
»Einschließlich Daphne?«
»Sie meinen, aus ihr spricht die Wut der Verschmähten?« fragte Barbara. »Das glaub ich nicht. Sie ist das häßliche Entlein, Inspector. Sie weiß genau, daß weder Chas Quilter noch sonst einer der Jungen hier auch nur einen Blick an sie verschwenden würde. Sie zählt überhaupt nicht. Aber genau das macht sie zu einer Person - da sie ja nie beachtet wird -, die mehr sieht und hört, als andere glauben.«
»Sie meinen«, warf St. James ein, »sie gehört zu den Menschen, vor denen andere ganz offen reden, weil sie sie überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen?«
»Ungefähr wie ein Möbelstück, ja. Und auf diese Weise bekommt sie eine Menge mit.«
»Klatsch läßt sich auf so einem Internat nie vermeiden«, sagte St. James zu Lynley.
»Besonders wenn sich's dabei um Sex dreht«, fügte Barbara hinzu. »Junge Leute haben natürlich auch noch andere Interessen, aber nichts ist so spannend wie die Frage, wer mit wem. Wenn Chas Quilter die Dachkammer im letzten Sommer zu Liebesübungen mit jungen Damen benutzte, kann man davon ausgehen, daß er das weiterhin getan hat. Und wahrscheinlich mit noch mehr Erfolg, da er jetzt ja noch dazu der Schulpräfekt ist. Und damit wäre auch erklärt, warum seine Mitschüler aus den oberen Klassen keine sonderliche Achtung vor ihm haben. Wenn er selber dauernd gegen die Vorschriften verstößt, kann er von den anderen keine Disziplin verlangen.«
»Wir können also Clive Pritchard noch immer nicht mit der Mansarde in Verbindung bringen«, stellte Lynley fest.
»Das ist richtig«, bestätigte Barbara. »Aber dafür haben wir was Besseres. Ein anderes Mordmotiv. Sexuelle Freizügigkeit, so nannte es doch Cowfrey Pitt, nicht? Wenn Chas' Aktivitäten ans Licht gekommen wären, wäre er geflogen. Und mit dem Studium in Cambridge wär's aus gewesen.«
»Sie wollen sagen, daß Matthew Whateley wußte, was Chas da oben in der Dachkammer trieb?«
»Es war ja ein offenes Geheimnis, Sir. Alle haben drüber geredet. Vielleicht erfuhr Chas von einer Bemerkung, die Matthew gemacht hatte. Er wußte bereits, daß Matthew ein kleiner Ehrenmann war, der meinte, die Vorschriften müßten eingehalten werden. Zum Beweis hatte er ja das Tonband, das Clive belastete. Er mußte damit rechnen, daß Matthew ihn früher oder später verraten würde; und er mußte fürchten, daß Matthew vorher jemanden in die Sache einweihte - jemanden, dem er trauen konnte -, genauso wie er ihn selbst - Chas, meine ich - in die Geschichte mit Clive Pritchard eingeweiht hatte. Es reichte also nicht, Matthew zu beseitigen. Die andere Person mußte auch ausgeschaltet werden. Nur für den Fall, daß sie sich erinnerte, was Matthew ihr über Chas anvertraut hatte.«
»Jean Bonnamy?«
»Genau. So seh ich's.«
»Aber warum dann nicht ihren Vater? Hätte sich Matthew nicht auch ihm anvertraut?«
»Möglich. Aber er ist alt. Er ist krank. Chas
Weitere Kostenlose Bücher