03 - Der Herr der Wölfe
Gott mochte wissen, was mit ihnen geschehen würde, sollte es ihnen nicht gelingen, Geralds Streitkräfte zurückzuschlagen.
Sie öffnete die Lippen, um nach ihren Kriegern zu rufen, doch die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. So viele Männer waren ringsum verstreut, starke Männer, die noch vor kurzem gelebt und geatmet und gelacht hatten. Jetzt lagen sie in ihrem Blut, niedergemetzelt, verstümmelt.
Mühsam bezwang sie die Angst und das Grauen. Der Vater durfte nicht ungerecht bleiben. Und so zog sie ihr Schwert aus der Scheide und schwang es in die Luft. »Für Gott und unser Recht, meine Freunde! Für meinen Vater! Für unser Leben! Folgt mir!«
Kapitel 6
Warrior, das erprobte Schlachtross, sprang vorwärts, und wenige Tage vor ihrem dreizehnten Geburtstag führte Melisande ihre Truppe in den Kampf. Der Wind riss an ihren Haaren, und sie beugte sich tief über den Pferdehals, von wachsender Angst erfasst.
Sie wollte ihr Schwert nicht schwingen, nicht spüren, wie es in menschliches Fleisch drang, und kein Blut fließen sehen. Und ebensowenig wollte sie selbst kalten
Stahl oder das gnadenlose Gewicht einer Streitaxt fühlen.
Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Ringsum hörte sie Klingen klirren und die Schlachtrufe der Männer. Warrior blieb stehen und erwartete ihren Befehl. Ihre Finger umklammerten den Schwertknauf. Sie sah einen von Geralds Kriegern auf sich zukommen, einen stämmigen Mann mit rotem Haar und wild flackerndem Blick, und sie hob blitzschnell ihre Waffe.
Plötzlich wurde er von hinten angegriffen und stürzte vornüber, direkt auf ihr Schwert. Seine weitgeöffneten, erstaunten Augen starrten sie an und schlossen sich nicht, als er starb. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf, aber sie wagte nicht, ihn auszustoßen, ihren Leuten das Grauen zu zeigen, das sie quälte. Warrior tänzelte vor und wieder zurück.
An ihrer Seite erklang Philippes Stimme. »Gebt das Zeichen zum Rückzug, Gräfin! Wir sind in der Minderheit und müssen Euch in Sicherheit bringen. Überlässt Gerald die Festung … «
»Nein!« unterbrach sie ihn. Tränen brannten in ihren Augen. Niemals würde sie vor dem Mann kapitulieren, der ihr den geliebten Vater genommen hatte.
Aufgeregt galoppierte Gaston de Orleans zu Philippe. »Wir müssen die Gräfin retten, denn sie ist alles, was wir jetzt noch haben. Seht doch, wie die Männer ihr gehorchen! Nur sie kann uns neue Hoffnung schenken. Sie darf nicht sterben!«
»Ich glaube, wir müssen uns ergeben!« rief Philippe atemlos. »Wenn wir auch unser Bestes versucht haben, der Feind ist bei weitem in der Überzahl.«
»Heiliger Himmel!« Der ältere, erfahrene Gaston lenkte sein Pferd näher zum Hauptmann heran und sprach etwas leiser, im erfolglosen Bemühen, seine Worte vor Melisande geheimzuhalten. »Versteht Ihr denn nicht? Gerald ist fest entschlossen, dieses Kind zu töten. Deshalb dürfen wir nicht kapitulieren. Wir müssen fliehen.«
»Er will sie töten?« Philippe schüttelte den Kopf. »Unsinn, er begehrt sie ebenso wie dieses Land! Außerdem würde er nicht wagen, sie zu ermorden, nachdem. wir uns unterworfen haben.«
»Aber wenn sie gegen ihn kämpft und … « Gaston warf Melisande einen kurzen Blick zu und verstummte.
Um ihre Angst zu verbergen, biss sie auf ihre Lippen. Nur zu deutlich erkannte sie die schreckliche Situation, in der sie sich befanden. Die Männer waren ihrem Ruf gefolgt, und nun drohte ihnen eine vernichtende Niederlage. Während Philippe und Gaston beratschlagten, sah sie eine neue Gefahr - sie waren von den anderen abgeschnitten. In ihrer Nähe entdeckte sie Gerald, der sein Schwert schwang.
Ein Blutsverwandter, der gegen uns kämpft, dachte sie bitter. Ihr Vater war sein Vetter zweiten Grades gewesen - und trotzdem von seiner Hand gestorben, nach all den Wohltaten, die der großzügige Graf ihm jahrelang erwiesen hatte. Voller Hass starrte sie ihren Feind an.
Er war ein hochgewachsener, kräftig gebauter Mann, etwas älter als ihr Vater, mit einem schmallippigen, schiefen Lächeln, dem sie nie getraut und das sie stets mit Unbehagen erfüllt hatte aus unerklärlichen Gründen. Es war ihr immer unangenehm gewesen, seine Wange zu küssen, und meistens hatte sie versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Jetzt wusste sie, warum.
Als sie seinem Blick begegnete und seine triumphierende Miene sah, hätte sie am liebsten ihr Schwert nach ihm geschleudert.
Plötzlich trat eine seltsame Stille ein. Die Klingen klirrten nicht mehr, das
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