03 - Der Herr der Wölfe
des Grafen flüchteten in wilder Panik - gute, treue Männer, aber wofür
sollten sie jetzt noch kämpfen, nachdem ihr Herr gefallen war? Offenbar fanden sie es besser, die Sicherheit der Wälder zu suchen, ihre Frauen und Kinder zu retten, mit ihnen zu fliehen. Solche Männer brauchten eine starke Hand, die sie lenkte und leitete, jemanden, der hinter ihnen stand, für den sie kämpften und ihr Leben wagten.
Und nun blieb nur noch Manons junge Erbin übrig. Ragwald holte tief Luft, starrte wieder aufs Meer hinaus und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
Was würden diese Schiffe anrichten, wenn Manons Krieger nach dem Kampf gegen Gerald keine neuen Kräfte sammeln konnten? Der alte Mann schwang sich wieder auf sein Pferd, galoppierte den Hang hinauf, wo immer noch vereinzelte Fechtkämpfe stattfanden, zum Burgtor, das jetzt fest verschlossen war.
Nur wenige Leute waren innerhalb der Mauern geblieben. Es gab nur noch einen einzigen Ausweg, die Kapitulation. Sonst würden sie von Geralds Truppe überwältigt werden - oder von den Seefahrern aus dem Norden. »Ich brauche Melisande!« schrie er die Wachtposten an. »Sofort!«
Zögernd gingen sie auf ihn zu. Die junge Herrin würde in ihrem Zimmer auf die bitteren Neuigkeiten warten, vielleicht von ihrer Zofe Marie de Tresse getröstet.
Grimmig saß Ragwald im Sattel. Sicher, sie würde zutiefst verzweifelt sein. Doch er kannte sie besser als jeder andere. Wenn er sie rief, würde sie kommen. Ein Küchenmädchen beugte sich blass vor Angst über die Brustwehr. »Ihr könnt doch kein Kind in diesen Kampf schicken, Ragwald, zusammen mit Männern!«
Wenn die Männer tot sind, habe ich nur noch dieses Kind, dachte er. Außerdem ist sie kein Kind mehr …
Da hörte er ihre Stimme, sanft und melodisch, aber auch stark und entschlossen. »Öffnet das Tor!« Sie ritt durch den Hof, nicht auf ihrer kleinen Stute Mara, sondern auf Warrior, dem Streitroß des toten Grafen. Ein Zittern durchlief ihren Körper, und ihr Blick verriet die ganze Trauer um den Vater. Aber Ragwald sah keine Tränen über die elfenbeinweißen Wangen fließen. Nein, sie war kein Kind mehr. Den Kopf hoch erhoben, die Schultern gestrafft, lenkte sie den Hengst würdevoll zu ihm. Und sie trug das Kettenhemd, das sie am vergangenen Abend bewundert hatten, ihre üppig verzierte goldene Rüstung. Das dichte, dunkle Haar fiel fast bis zu den Knien hinab. Für eine solche Anführerin würden die Männer kämpfen und, wenn es sein musste, sterben.
»Ihr habt es gehört?« fragte Ragwald leise. »Euer Vater ist tot. Jetzt seid Ihr die Gräfin.«
Ihre Unterlippe bebte, und ihre schönen violetten Augen schwammen in Tränen, die sie aber nicht vergoss. Wortlos nickte sie.
»Schreckliche Gefahren bedrohen uns alle«, fuhr er leise fort. »Und Ihr seid unsere einzige Hoffnung. Könnt Ihr an der Spitze unserer Männer reiten?«
Die Angst, die in ihrem Blick flackerte, erlosch sofort wieder. »Ich bin die Gräfin und … « Abrupt verstummte sie, als ein grässliches Geräusch in den Hof drang, der dumpfe Aufprall einer Streitaxt, die Knochen zersplitterte, gefolgt von einem gellenden Schmerzensschrei. Melisande wurde noch bleicher, fügte aber unbeirrt hinzu: »Ich bin die Gräfin, und ich werde unsere Männer anführen.«
Auch Ragwald musste Tränen unterdrücken. Wehmütig betrachtete er dieses schöne Mädchen, das er erzogen und unterrichtet hatte - und das jetzt in einen fast aussichtslosen Kampf ziehen musste. Was würde mit Melisande geschehen, wenn sie eine Niederlage erlitt? In jenem seltsamen Alter zwischen Kindheit und Frauentum war sie so verletzlich, so unschuldig. Schweren Herzens verneigte er sich. »Nun werden wir unsere Männer zusammentrommeln, Gräfin. «
Das Tor schwang auf, und sie ritten hindurch. Die meisten Mitglieder der Schlosswache hatten das Schlachtfeld verlassen und strebten den Wäldern entgegen. »Ihr müsst mit ihnen sprechen, Melisande … «, begann Ragwald, aber sie brauchte seinen Rat nicht mehr.
»Meine Freunde!« rief sie. »Wir müssen kämpfen! Niemals dürfen wir den Schurken, die meinen Vater verraten haben, dieses Land überlassen! Geralds Mordgesellen sollen uns nicht bestehlen, versklaven oder töten!«
Die Flüchtlinge hielten inne. Schwerter klirrten wieder, einer der Feinde fiel vor die Füße des hochgewachsenen Hauptmanns Philippe. Sobald er Melisandes Ruf gehört hatte, rannte er zu ihr und kniete nieder. »Gräfin! Was können wir gewinnen? Selbst wenn
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