03 - Der Herr der Wölfe
wir diese Bastarde bezwingen - blickt doch aufs Meer! Zahllose Drachenschiffe steuern unsere Küste an!«
Erst jetzt sah Melisande die Wikingerflotte. Ragwald hatte es vorgezogen, nichts davon zu erwähnen, und nun las er angstvolle Verwirrung in ihren Augen. »Vielleicht wollen sie uns nicht bekämpfen«, versuchte er sie zu beruhigen. Jemand musste ihnen entgegeneilen, um Hilfe flehen, eine Belohnung versprechen. »Ein eigenartiges Volk … Und wenn das keine Schweden oder Dänen, sondern Norweger sind, stellen sie sich vielleicht auf unsere Seite.« Er kannte seine Pflicht. Jahrelang hatte er als Graf Manons Adjutant fungiert, Botschaften überbracht, Friedensverträge ausgehandelt. Auch jetzt musste er sein Bestes tun. Und Melisande würde hierbleiben, eine schimmernde, goldene Gestalt, die ihren Männern neuen Mut gab, so dass sie weiterkämpften, bis Verstärkung eintraf. ja! Die Neuankömmlinge mussten ihnen beistehen!
»Was für seltsame Wikinger!« rief Philippe. »Seht doch! Der Mann an diesem Ruder hinter dem Drachenbug!«
Zum ersten Mal richtete Melisande ihren Blick auf Conar MacAuliffe, und aus unerklärlichen Gründen erregte er sofort feindselige Gefühle in ihrem Herzen. Mochte Ragwald ihn auf ihre Seite ziehen oder nicht -alles in ihr sträubte sich gegen diesen Mann. Noch nie war sie einem solchen Krieger begegnet.
Der Himmel war immer dunkler geworden, wilde Stürme peitschten das weißschäumende Meer. Doch der Wikinger stand an Bord seines Schiffes, ohne zu schwanken, einen Fuß im pelzbesetzten Lederstiefel auf das Ruder gestützt, die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt. Goldblondes Haar spiegelte das schwache Tageslicht wider, und über seinem Kettenhemd trug er einen Mantel, der Melisande an die irischen Gäste ihres Vaters erinnerte. Eine große Spange mit keltischem Emblem hielt den Umhang über der Schulter zusammen. ,
Seltsam - einerseits sah der Mann wie ein Wikinger aus, andererseits nicht. Wie heißer Stahl durchschnitt sein Schiff das Wasser, während er hoch aufgerichtet dastand, selbstsicher und würdevoll. Plötzlich hatte Melisande das Gefühl, dass er sie anschaute - obwohl sie seine Augen nicht erkennen konnte. Er musterte sie, daran zweifelte sie nicht, und sicher sah er nur ein Kind in ihr
»Ein merkwürdiger Wikinger … «, begann Ragwald, dann hielt er den Atem an. »Oh, das ist er! Großer Gott, welch ein Narr ich war! Ich hätte es wissen müssen. Das ist er!« Als sie ihn verwirrt anstarrte, erklärte er hastig: »Conar MacAuliffe, der Sohn des Wolfs, der Enkel des Ard-Righ von Irland. Durch ein Ehebündnis mit Alfred von Wessex verwandt.«
Diesen Namen kannte Melisande. Alfred war der bedeutsamste König, der je auf der anderen Seite der Meeresenge gelebt hatte. Unermüdlich kämpfte er für sein Volk, hielt seine Stellung in zahllosen Schlachten und zwang den Dänen Verträge auf.
Und dieser Wikinger war mit ihm verwandt?
Plötzlich schrie Philippe auf und zeigte zum Grat im Südosten. »Da reitet Gerald! Der Bastard! Erst jetzt kehrt er mit seinen Männern zurück. So ein Feigling! Erst lockt er unseren Grafen in eine tückische Falle und lässt ihn ermorden, dann zieht er sich zurück, bis der Kampf fast beendet ist, und jetzt, wo unsere Streitkräfte völlig geschwächt sind, taucht er wieder auf.«
»Ihr müsst Eure Männer zu Euch rufen, Melisande!« mahnte Ragwald. »Inzwischen hole ich Hilfe.«
»Von diesen Heiden auf dem Meer?« rief sie erbost.
»Das versteht Ihr noch nicht, liebes Mädchen. Später will ich Euch alles erklären, aber jetzt muss ich zur Küste reiten. Diese Heiden werden uns tatsächlich beistehen.«
»Ragwald!«
»Ruft Eure Männer zusammen, Gräfin!« wiederholte er hastig. »Sie müssen kämpfen! Sofort!«
Er galoppierte davon, und sie fühlte sich unendlich einsam, trotz der zahlreichen Männer, die das Schlachtfeld übersäten, tot oder lebendig. Ja, sie war allein, denn ihren vergötterten Vater gab es nicht mehr, den gütigen Mann, der ihr Leben geprägt, ihr Würde und Anstand beigebracht, stets hinter ihr gestanden und sie geliebt hatte, viel inniger, als man einen Sohn lieben konnte.
Nein, unmöglich … Er durfte nicht tot sein, ihr starker, mächtiger Beschützer. Wie unbesiegbar war er ihr stets erschienen - und nun wagte sie nicht, dort hinzuschauen, wo er reglos am Boden lag.
Doch dann verdrängte sie diese schmerzlichen Gedanken. jetzt war sie die Gräfin, trug die Verantwortung für ihre Leute und nur
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