03 - Der Herr der Wölfe
der Besitzer der stärksten Festung seine eigenen Gesetze erließ …
Entschlossen trat Melisande wieder an die Brustwehr. Gerald dachte, nachdem er ihren Vater ermordet hatte, würde er über ihr Schicksal bestimmen und ihr Erbe an sich reißen können. Doch das würde sie nicht gestatten. Lieber wollte sie sterben. Sie schaute in den Hof hinab, wo Warrior allein und herrenlos stand. Und dann erinnerte sie sich an das schöne vergoldete Kettenhemd, das ihr der Vater geschenkt hatte. Für zeremonielle Anlässe.
An diesem Abend würde eine Zeremonie stattfinden. Sie mussten den Grafen in der Schlosskapelle aufbahren, die Totenwache halten - und allein schon deshalb weiterleben und Gerald in seine Schranken weisen.
Melisande blickte zum Himmel hinauf und betete leise. »Lieber Gott, gib uns die Kraft, ihn zu besiegen. Lass den Feind sterben - oder mich, wenn es mir misslingt, ihn zu schlagen.« Sie eilte in ihr Turmzimmer, legte das Kettenhemd an und wollte wieder hinauslaufen. Doch sie fiel auf die Knie und faltete die Hände. »Allmächtiger, steh
mir bei im Kampf gegen diesen Mann und hilf mir, ihn in die Hölle zu schicken!«
Sie sprang auf und ergriff das Schwert, das genau in die kunstvoll verzierte Scheide am Kettenhemd passte, und erschauerte plötzlich, von Todesangst erfasst. Doch ihr Vater war bereits tot, und der Gedanke an ein Leben ohne ihn flößte ihr noch größere Furcht ein. Seine Worte hallten in ihrem Herzen wider. »Du kennst unsere Verantwortung für die Menschen, die auf diesen Ländereien leben und von uns abhängig sind, und ich weiß, dass du ihr Wahl vor dein eigenes stellst … «
Welchen Lohn hatte Gerald seinen Männern für die Eroberung des Schlosses versprochen? Die Frauen und Mädchen, die hier wohnten? Die Milchmädchen, die Näherinnen, die Zofen, Köchinnen und Bäuerinnen? Ihre Kleider, ihr Geschirr, die bescheidenen Juwelen? Die Silberkelche in der Kapelle und die goldenen Kreuze? Ein Teil der Männer ermordet, die restlichen versklavt … An das Los, das der Feind ihr selbst zudachte, wollte Melisande gar nicht erst denken. Der Tod wäre vorzuziehen.
Von diesem Gedanken erfüllt, stand sie auf. Zeit ihres Lebens würde sie Gerald und sein Gefolge und die Wikinger hassen. Mochte es ein kurzes oder ein langes Leben sein.
***
Am anderen Ende der Brustwehr sah Ragwald eine neue Gefahr heraufziehen, die seinen Atem stocken ließ. Meeresungeheuer näherten sich, Drachenköpfe, die sich mit jeder schaumgekrönten Welle aus dem Wasser hoben, die Zähne gefletscht. Wikingerschiffe. Sie schienen über die stürmische See zu springen. Der Tag, am Morgen noch sonnenhell, hatte sich verfinstert. Graue Wolken stiegen am Horizont empor, zackige Blitze rasten über den Himmel, als hätten sich der nordische Gott Odin und sein Sohn Thor verbündet, um die Erde mit Flammenschwertern anzugreifen.
Drachenschiffe … Ragwald beobachtete sie noch eine
Weile, dann rannte er in den Hof hinab und rief nach einem Pferd, das ihm sofort gebracht wurde. Rasch stieg er auf, ritt zum Tor hinaus und durch das Kampfgetümmel, das er kaum beachtete, als wäre er unsterblich. An der Küste angekommen, sprang er von seinem Hengst. Der Meereswind wehte ihm das weiße Haar ins zerfurchte Gesicht. Nur seine grauen Augen wirkten plötzlich alterslos.
Ein Mann, der die Astrologie zu seinen besonderen Talenten zählte, hatte diese große Katastrophe nicht vorhergesehen. Erst Geralds Angriff - und jetzt das! Großartige, grausige Schiffe. Wie konnte ein Prophet Glaubwürdigkeit erlangen, wenn er diesen Tag nicht vorausgeahnt hatte? Sicher, am letzten Abend war er von jenem seltsamen Frösteln befallen worden, aber ohne zu wissen, warum. Sonst hätte er Manon gewarnt.
Jetzt war der Graf tot, niedergemetzelt von Schwertern und Schlagkeulen. Eine Streitaxt hatte den edlen Kopf beinahe vom Rumpf getrennt. Dieser Triumph war Gerald, seinem entfernten Verwandten, nur mit Hilfe der marodierenden Dänen gelungen, die unentwegt die Flüsse und Küsten Frankreichs verpesteten.
Schon lange gelüstete es Gerald nach diesem Stück Land, wo hohe Felsen einen sicheren Hafen umgaben, wo man den Sand der Strände in fruchtbares Erdreich verwandeln konnte. Von Anfang an hatte er Manon die schöne Festung geneidet, deren weißer Stein sich so eindrucksvoll vom Blau des Himmels und des Meeres und den dunklen Wäldern abhob.
Ragwald drehte sich um und sah, dass der Kampf fast verloren war. Die meisten Gefolgsleute
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