03 Göttlich verliebt
streckte seinem Sohn die Hand hin und Orion schüttelte sie ohne ein Lächeln.
»Du siehst stark aus«, stellte Daedalus fest, nachdem er Orion eingehend gemustert hatte.
»Das bin ich«, antwortete Orion knapp. Die beiden starrten sich in die Augen, und Daedalus war der Erste, der den Blickkontakt abbrach.
Lucas hatte Orion noch nie so unfreundlich erlebt, aber nachdem sein Vater ihn schon als Kind im Stich gelassen hatte, konnte Lucas ihm keinen Vorwurf machen. Falls Daedalus auffiel, wie wortkarg sein Sohn war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Er sah an seinem Sohn vorbei zu Hector.
»Ajax«, murmelte er. Einen Moment lang spiegelte sich Bedauern auf seinem Gesicht, doch es verwandelte sich schnell in Missmut.
»Tritt ein«, sagte Noel. »Jungs, lasst ihn durch.«
Lucas verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, sein Heim zu verteidigen. Er wollte Daedalus nicht durchlassen und spürte, dass es Hector und Orion genauso ging. Keiner von ihnen rührte sich vom Fleck.
»Nun bewegt euch schon«, knurrte Noel ungeduldig und drängte sich an ihnen vorbei. »Es spielt keine Rolle, dass die Furien fort sind – ihr benehmt euch immer noch wie ein Rudel wilder Hunde. Anscheinend muss hier jeder erst mal den anderen beschnüffeln.«
Daedalus rang sich ein Lächeln ab und folgte Noel. Hector, Lucas und Orion ließen ihn widerwillig passieren.
»Blöde Situation«, bemerkte Hector, nachdem Daedalus Noel ins Haus gefolgt war.
»Ein richtiger Sonnenschein, nicht wahr?«, sagte Orion sarkastisch. »Ach, und das eben war sein ›freundliches Gesicht‹.«
»Wieso hast du mich nicht gewarnt, dass ich deinem Dad so ähnlich sehe?«, fragte Lucas und funkelte Orion erbost an.
»Ich dachte, das wüsstest du«, sagte Orion mit einem Schulterzucken.
»Ich wusste, dass es eine gewisse Ähnlichkeit gibt, aber das hier ist lächerlich. Wie zum Teufel soll ich mich jetzt fühlen?«
»Für mich ist das auch nicht gerade ein Picknick. Jedes Mal, wenn ich dich ansehe, sehe ich meinen Vater vor mir. Die Parzen spielen gern ihre Spielchen mit uns, Lucas. Sie sorgen immer dafür, dass wir aussehen wie die Person, die uns gerade am wenigsten passt.« Plötzlich musste Orion grinsen. »Sieh dir zum Beispiel Hector an. Er sieht aus wie jemand, den alle mögen müssten, und dabei ist er ein Blödmann.«
»Danke, Kumpel«, erwiderte Hector freudig, als hätte Orion ihm gerade ein Kompliment gemacht. Da mussten alle kichern und ihre Anspannung löste sich ein wenig.
»Lass dich davon nicht verrückt machen«, warnte Orion ernst und mit hochgezogenen Brauen. »Wir haben heute Abend Wichtigeres zu tun.«
»Keine Sorge«, versicherte Lucas. »Ich weiß, wozu ich da bin.« Orion wusste natürlich, dass er davon sprach, Helen zu beschützen.
Helen hörte immer mehr unbekannte Stimmen, die von unten zu ihr heraufdrangen, als weitere Scions zur Versammlung der Häuser eintrafen. Sie spürte die wachsende Spannung durch den Fußboden – es fühlte sich so ähnlich an wie das tiefe Wummern der Bässe bei einer guten Stereoanlage. Helens neue Antenne für die Emotionen der anderen ließ die Empfindungen der Gäste auf sie einstürmen. Sie kannte nicht alle Einzelheiten des Krieges vor zwanzig Jahren, aber sie war überzeugt, dass es noch viele offene Rechnungen gab. Ein Stockwerk tiefer drohte eine explosive Mischung aus Hass, Liebe und Verlust jeden Moment in offene Gewalt umzuschlagen. Helen hatte das Gefühl, direkt über einer Bombe zu stehen.
Sie zupfte nervös an ihrem Outfit herum. Es war ein bisschen schicker, als sie es gewohnt war. Sie hatte schon immer Kaufhausklamotten bevorzugt, aber Daphne hatte ihr ein Designerteil mitgebracht und ihr einzureden versucht, dass es gut für ihr Selbstbewusstsein wäre. Doch das Gegenteil war der Fall – es machte sie nur noch nervöser. Helen war überzeugt, dass die Lederstiefel mehr gekostet hatten als der gesamte Inhalt ihres Kleiderschranks. Sie fragte sich, woher ihre Mutter das Geld für diese teuren Sachen hatte, doch eigentlich wollte sie es gar nicht wissen. Daphne hatte kein Problem damit, unbezahlbare Schätze aus Museen zu stehlen. Helen war ziemlich sicher, dass die Überwachungskameras von Modeboutiquen sie gar nicht erfassten.
Einen Moment lang stellte sich Helen die Spur der Verwüstung vor, die Daphne auf ihrem Weg von Daedalus’ Haus in Neufundland nach Nantucket zum Treffen bei den Delos hinter sich zurückgelassen hatte – gestohlene Autos und
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