03_Im Brunnen der Manuskripte
Als ›Gentleman mit grauen
Schläfen‹ könnte er ganz groß rauskommen, aber er scheint zu
glauben, dass eine Beschreibung seines Äußeren genügt und
dass er sonst nicht viel tun muss. Er weigert sich, seine Charaktertiefe zu schulen.«
»Und das ist ein Problem?«
»Ich würde ihm gern eine etwas anspruchsvollere Rolle verschaffen«, seufzte der wohlmeinende Dr. Fnorp. »Aber jetzt ist
er schon zweimal durchs B-Examen gerasselt. Wenn er beim
drittenmal wieder versagt, kann er froh sein, wenn er irgendwo
noch eine Sprechrolle mit zwei, drei Zeilen erwischt.«
»Vielleicht will er ja nichts anderes. Es können schließlich
nicht alle Figuren A-Klasse sein.«
»Genau«, sagte Fnorp bitter. »Das ist der Fehler im System!
Wenn alle Nebenfiguren Charaktertiefe hätten, wäre die gesamte Belletristik viel besser. Ich möchte, dass meine Studenten alle
Rollen mit echtem Leben erfüllen. Auch die C-Rollen.«
Ich musste ihm Recht geben. Selbst mit meiner relativ beschränkten Erfahrung schien es mir wünschenswert, überall
abgerundete Charaktere zu haben. Das Problem war nur, dass
der GattungsRat seit über dreißig Jahren bei der Bildungspolitik
sparte und die Mindestanforderungen bei der Charaktertiefe
ständig gesenkt hatte.
»Sie haben Angst vor einer Revolte«, sagte Fnorp leise. »Der
GattungsRat will die Rohlinge dumm halten. Eindimensionale
Charaktere sind leichter zu lenken, aber die BuchWelt leidet
darunter.«
»Und was erwarten Sie von mir?«
»Na ja«, sagte Fnorp und trank seinen Kaffee aus. »Vielleicht.
könnten Sie mal mit Randolph reden und herauszukriegen
versuchen, warum er plötzlich auf stur schaltet.« Ich versprach
ihm, mein Bestes zu tun, und brachte ihn dann zur Tür.
Randolph lag schlafend in seinem Bett und umklammerte innig
sein Kopfkissen. Lola war schon unterwegs, um sich mit Freunden zu treffen. Ihr Foto stand auf seinem Nachttisch, und er
schnarchte still vor sich hin. Ich schlich zur Tür hinaus und
klopfte dann heftig dagegen.
»Wasnlos?« fragte eine schläfrige Stimme.
»Ich muss den dritten Motor anlassen«, sagte ich. »Kannst du
mir helfen?«
Man hörte ein lautes Plumpsen, als er aus dem Bett fiel. Ich
grinste und trug meinen Kaffee aufs Flugdeck hinauf, wo ich auf
dem Pilotensitz Platz nahm. Mary hatte mich ja tatsächlich
gebeten, den letzten verbliebenen Motor gelegentlich laufen zu
lassen, und mir eine spezielle Checkliste dafür gegeben. Ich sah
am Flügel hinunter. Die Haube war offen, und der große,
ölverschmierte Motor war deutlich zu sehen. Es regnete nie hier
am See, aber letztendlich war das egal, denn die Dinge alterten
ohnehin nicht.
Ich warf einen Blick auf die Checkliste. Der Motor musste
zunächst von Hand bewegt werden, und dazu hatte ich echt
keine Lust. Deshalb schickte ich den etwas mürrischen Randolph hinaus auf die Tragfläche, als dieser endlich erschien.
»Wie oft muss ich drehen?« fragte er, nachdem er die Handkurbel mühsam in die dafür vorgesehene Öffnung gesteckt
hatte.
»Zweimal sollte genügen«, rief ich zurück. Es dauerte zehn
Minuten, bis er es endlich geschafft hatte.
»Und was machen wir jetzt?« fragte er mit rotem, erhitztem
Gesicht. Seine schlechte Laune war weg. Einen Sternmotor
anzulassen war etwas, was ihn interessierte.
»Du kannst es ja vorlesen«, sagte ich und gab ihm die Checkliste.
»Treibstoffhauptleitung öffnen, bei ausgeschalteter Zündung«, las Randolph vor.
»Erledigt.«
»Propellerhebel hoch und Drosselklappe einen Zoll öffnen.«
Ich zerrte an den entsprechenden Hebeln in der Konsole.
»Erledigt. Dr. Fnorp war heute früh hier.«
»Spreizklappen öffnen und Mischungsverhältnis auf Leerlauf. Was wollte der alte Sack denn?«
Ich zog den Mischungshebel zurück. »Er hat gesagt, du
könntest sehr viel mehr leisten, wenn du nur wolltest. Wie geht
es weiter?«
»Treibstoffpumpe einschalten, bis die Warnlampe erlischt.«
»Und wo soll die sein?«
Wir fanden die Treibstoffpumpe über unseren Köpfen im
hinteren Teil der Kabine, und Randolph knipste sie an.
»Ich will gar keine Hauptrolle«, sagte er. »Es genügt mir vollkommen, irgendwo als ältere Lehrerfigur zu arbeiten, zum
Beispiel in Mädchen müssen bloß zugreifen.«
»Ist das nicht der Roman, in dem Lola auftreten soll?«
»Ach, wirklich? Das wusste ich gar nicht.«
»Gut«, sagte ich, als die Kontrolllampe für die Treibstoffzufuhr erlosch. »Was weiter?«
»Jetzt müssen Sie den
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