03_Im Brunnen der Manuskripte
»So war es
nicht! Aornis versucht, dich zu verwirren. Anton ist beim
Angriff der Leichten Brigade gestorben.«
»Nein, es war dieser andere …«
»Landen?«
Der Name sagte mir gar nichts. Geduldig erklärte mir Granny noch einmal, was es mit Aornis, Landen und Mnemonomorphen auf sich hatte, aber was sie sagte, verstand ich allenfalls intellektuell, aber nicht emotional. Einerseits glaubte ich
ihr, andererseits aber auch nicht. Schließlich hatte ich diesen
Landen doch selbst sterben sehen, nicht wahr?
»Granny, hast du wieder mal einen deiner wirren Momente?«
»Ganz im Gegenteil.«
Aber ihre Stimme hatte nicht das übliche Selbstvertrauen. Sie
schrieb mir den Namen Landen mit dem Filzschreiber auf
meinen Handrücken, und ich schlief wieder ein. Ich fragte
mich, was Anton wohl vorhatte, und dachte an die kurze,
leidenschaftliche Affäre, die ich auf der Krim mit dem feschen
Leutnant gehabt hatte, an dessen Namen ich mich nicht mehr
erinnern konnte, weil er beim Angriff der Leichten Brigade
verreckt war.
23.
Jurisfiktion-Sitzung Nr. 40320
Snell erhielt ein Seebegräbnis im Textmeer. Es wurden nur
die engsten Freunde geladen, und während Miss Havisham
an dem Ereignis teilnahm, konnte ich leider nicht hingehen.
Sowohl Perkins als auch Snell sollten durch Rohlinge der
Klasse B-2 ersetzt werden, die ihre Rollen schon bisher in
einigen billigen Lizenzausgaben gespielt hatten, wie sie
manchmal Zeitungen beigelegt werden. Als Snells Leichnam
ins Meer versenkt und wieder in Buchstaben aufgelöst wurde, läutete der Protokollführer seine Glocke und hielt eine
kurze Ansprache. Havisham sagte, es sei sehr bewegend gewesen. Die größte Ironie war allerdings, dass die gesamte
Perkins-&-Snell-Serie in wenigen Monaten als Kassettenausgabe in Halbleder herauskommen würde und keiner der
beiden es jemals erfuhr.
THURSDAY NEXT
– Die Jurisfiktion-Aufzeichnungen
Am nächsten Morgen war ich erschöpft und todmüde. Granny
saß schnarchend im Sessel und hielt Pickwick auf ihrem Schoß.
Ich machte mir einen Kaffee, setzte mich an den Küchentisch,
blätterte in der neuesten Ausgabe von Bewegliche Lettern und
fühlte mich reichlich beschissen. Es klopfte an der Tür, und weil
ich den Kopf zu schnell hob, stachen mich tausend Nadeln ins
Hirn. »Jaa?« krächzte ich mühsam.
»Ich bin Dr. Fnorp. Ich unterrichte Lola und Randolph.«
Ich machte die Tür auf, ließ mir seinen Ausweis zeigen und
ließ ihn herein. Er war ein hochgewachsener kleiner Mann,
dessen dunkle Haare meist ziemlich blond wirkten. Er sprach
mit einem deutlichen Akzent, der offensichtlich von nirgendwo
stammte, und hinkte leicht, möglicherweise aber auch nicht. Er
war ein generischer Typ und konnte jedermann alles bedeuten.
»Kaffee?« fragte ich.
»Vielen Dank«, sagte er und fügte hinzu: »Aha!«, als er den
Artikel sah, den ich gerade las. »Jedes Jahr gibt es neue Kategorien!«
Damit bezog er sich auf die BuchWeltPreise, die, wie ich gerade festgestellt hatte, in diesem Jahr von UltraWord™ gesponsert wurden.
»Bekloppteste Shakespeare-Figur«, las er. »Den kriegt Othello
bestimmt. Gehen Sie auch zur Verleihung?«
»Man hat mich sogar gebeten, einen der Preise zu überreichen. Das gehört offenbar zu den Aufgaben des jüngsten Mitglieds von Jurisfiktion.«
»Ach, ja? In diesem Jahr werden ja zum ersten Mal auch alle
Rohlinge eingeladen. Wir mussten ihnen eigens einen Tag dafür
freigeben.«
»Kann ich irgendwas für Sie tun?«
»Nun ja, Lola ist diese Woche dauernd zu spät gekommen,
schwätzt im Unterricht, raucht und flucht und bringt die anderen Mädchen auf Abwege. Außerdem hat sie im Wissenschaftsgebäude eine Schwarzbrennerei eingerichtet. Sie zeigt keinerlei
Respekt gegenüber dem Lehrkörper und war mit den meisten
ihrer männlichen Klassenkameraden im Bett.«
»Das ist ja schrecklich! Was sollen wir da machen?«
»Machen?« fragte Fnorp. »Wir machen da gar nichts. Lola
hat sich ganz prächtig entwickelt. Wir haben ihr bereits eine
Hauptrolle in einem frechen Liebesroman verschafft. Der Titel
heißt Mädchen müssen bloß zugreifen, und die Zielgruppe sind
die knapp Dreißigjährigen. Nein, ich mache mir Sorgen um
Randolph.«
»Ich … verstehe. Wo liegt das Problem?«
»Nun, er nimmt das Studium einfach nicht ernst genug. Er
ist gar nicht dumm; ich könnte bestimmt einen A-4 aus ihm
machen, wenn er ein bisschen fleißiger wäre. Sein gutes Aussehen wird noch mal sein Untergang.
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