03_Im Brunnen der Manuskripte
Wir
befanden uns am Rand eines riesigen Wasserfalls, der sich auf
beiden Seiten in die Dunkelheit erstreckte. Der Ozean stürzte
über die Kante und fiel in die Tiefe. Aber das war noch nicht
alles. Beim nächsten Blitz musste ich feststellen, dass sich der
Wasserfall immer näher an den Leuchtturm heranfraß. Ich sah,
wie ein Stück Felsen nach dem anderen von den rasenden
Wassermassen erfasst wurde und lautlos im Abgrund verschwand.
»Was ist das?« fragte ich. »Was geschieht da?«
»Du vergisst alles«, sagte sie einfach.
Sie machte eine Handbewegung in Richtung des Zimmers.
»Das sinddie letzten Überreste deines Bewusstseins. Die letzte
Bastion, sozusagen. Der Sturm, der Leuchtturm, der Wasserfall,
die Nacht, der Wind – das alles ist nicht real.« Sie trat näher an
mich heran, und ich roch ihr Parfüm. »Das alles sind nur Vorstellungen deines Bewusstseins. Der Leuchtturm bist du, er ist
dein Bewusstsein. Das Meer um uns herum, das sind deine
Erinnerungen, deine Erlebnisse, das ist alles, was dich zu der
Person macht, die du bist. Und jetzt verschwindet das alles im
Abfluss, du läufst einfach aus wie das Badewasser aus einer
Wanne. Bald stürzt der Leuchtturm mit dir ins Wasser, und
dann hinunter ins Nichts, und dann...«
»Und dann?«
»… dann habe ich endlich gewonnen. Du wirst dich an gar
nichts erinnern, nicht einmal an das hier. Natürlich kannst du
wieder lernen – in zehn Jahren bist du dann vielleicht so weit,
dass du dir wieder selbst die Schuhe zubinden kannst. Aber in
den ersten Jahren kannst du allenfalls entscheiden, ob du aus
dem rechten oder aus dem linken Mundwinkel sabbern willst.«
Ich wandte mich um, aber sie rief mich zurück. »Du kannst
nicht davonlaufen. Wo willst du denn hin? Für dich gibt es
nichts außer dem Hier und Jetzt.«
Ich blieb stehen, drehte mich um, hob meine Pistole und feuerte einen Schuss auf die junge Frau ab. Die Kugel ging durch
sie hindurch und bohrte sich wirkungslos in die Wand.
»Das reicht nicht, Thursday. So kommst du nicht weiter.«
»Thursday? Ist das mein Name?«
»Das ist egal. Du kannst dich an niemand erinnern, der dir
helfen könnte.«
»Macht das Ihren Sieg nicht irgendwie schal?« fragte ich und
rieb mir die Schläfe. Vergeblich versuchte ich mich an irgendwas zu erinnern.
»Das aus deinem Kopf zu entfernen, was dir am wertvollsten
war – das war das Schwerste. Dazu musste ich deine schlimmste
Erfahrung beschwören, die Erinnerung, vor der du am meisten
Angst hast. Danach war es einfach.«
»Meine schlimmste Erfahrung?«
Wieder lächelte sie und zeigte mir ihren Handspiegel. Er
zeigte nicht unsere unmittelbare Umgebung, sondern zahllose
flüchtige Bilder, die rasend darüber weghuschten. Ich griff nach
dem Spiegel und versuchte herauszufinden, was er mir zeigte.
»Das sind die Bilder deines Lebens, das sind die Menschen,
die du liebst, das ist alles, was dir etwas bedeutet, all deine
Erinnerungen – aber auch das, wovor du am meisten Angst
hast. Ich kann das alles nach Gutdünken modifizieren oder
auch ganz einfach löschen. Aber ehe ich das tue, werde ich dir
das Schlimmste noch einmal zeigen. Schau es dir an, Thursday,
schau es dir an: Erlebe den Tod deines Bruders noch einmal!«
Der Spiegel zeigte mir eine längst vergangene Schlacht und
den Tod eines jungen Soldaten, der mir vage vertraut schien.
Ich spürte den Schmerz, ihn verloren zu haben.
Die Bilder wiederholten sich, schärfer und grausamer, und
die Frau lachte.
Ich schloss meine Augen, um den Schrecken nicht sehen zu
müssen, aber ich machte sie rasch wieder auf. Denn ich hatte
ganz am Rande meines Bewusstseins noch etwas anderes gesehen. Es war bedrohlich und dunkel und wartete nur darauf,
mich zu verschlingen. Ich keuchte, und meine Angst blieb der
jungen Frau nicht verborgen.
»Was gibt's?« fragte sie. »Habe ich was übersehen? Gibt es
noch was Schlimmeres als die Krim? Lass mal sehen!« Sie griff
nach dem Spiegel, aber ich ließ ihn fallen. Er zersplitterte auf
dem Zementboden, und gleichzeitig hörten wir fünf Stockwerke
unter uns etwas gegen die eiserne Tür krachen.
»Was war das?« fragte sie.
Jetzt wurde mir klar, was ich gesehen hatte. Dieses Ungeheuer, das ich so viele Jahre in den hintersten Winkel meines Unbewussten gesperrt hatte, war vielleicht genau das, was ich
brauchte, um sie zu besiegen.
»Das«, sagte ich, »ist mein schlimmster Alptraum – und jetzt
wird es Ihrer!«
»Das kann doch
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