03_Im Brunnen der Manuskripte
hast,
kannst du sie vorher klein schneiden und mit Zwiebeln und
Speck etwas anbraten. Du hast doch Speck, hoffe ich?«
»Ja, bestimmt. Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du
hierher gekommen bist, Omi.«
Granny Next war immerhin schon 108 Jahre alt und fest überzeugt, dass sie nicht sterben könnte, ehe sie nicht die zehn
langweiligsten Klassiker gelesen hätte. Ich hatte die Fairie
Queene, Paradise Lost, Ivanhoe, Moby Dick, À la recherche du
temps perdu, Pamela und A Pilgrim's Progress vorgeschlagen.
Diese und viele andere Bücher hatte sie brav gelesen, weilte aber
trotzdem noch unter uns. Die Dinge sind eben alle sehr relativ.
»Wie wär's denn mit Silas Marner?«
»Nur teilweise langweilig, genau wie Hard Times. Du wirst
dich etwas mehr anstrengen müssen. Wenn ich du wäre, würde
ich eine etwas größere Pfanne für mein Omelette nehmen, und
weniger Hitze.«
»Ach?« sagte ich und wurde allmählich ärgerlich. »Vielleicht
möchtest du lieber kochen? Du hast ja ohnehin schon die
meiste Arbeit gemacht.«
»Nein, nein«, sagte Granny ganz ungerührt. »Du machst das
doch alles sehr schön.«
Man hörte die Tür aufgehen, und Ibb kam, dicht gefolgt von
Obb, herein.
»Herzlichen Glückwunsch!« sagte ich.
»Wozu?« fragte Ibb, der nicht mehr genauso aussah wie Obb,
sondern jetzt blond war und mindestens zehn Zentimeter
kleiner als Obb.
»Zu den Großbuchstaben in euren Namen.«
»Ja!« sagte Ibb voller Begeisterung. »Es ist erstaunlich, was
alles passiert, wenn man den Unterricht in St. Tabularasa besucht. Heute die Großbuchstaben, morgen werden wir unsere
Gattungs-Schulung beenden, und am Ende der Woche werden
wir in Charakter-Leistungsgruppen eingeteilt.«
»Ich möchte gern Lehrer werden«, sagte Obb. »Unser Betreuer hat gesagt, dass man es sich manchmal aussuchen kann,
was man für eine Figur wird und wo man eingesetzt wird.
Machen Sie gerade Abendessen?«
»Nein«, sagte ich, »das ist bloß eine Wärmetherapie für meine drei Lieblingseier.«
Ibb lachte – was meiner Ansicht nach ein gutes Zeichen für
seine Ironiekenntnisse war – und zog sich mit Obb zurück, um
witzige Antworten und Schlagfertigkeit zu trainieren, falls sie
irgendwo als komische Nebenfiguren eingesetzt werden sollten.
»Ach, diese jungen Leute!« sagte Granny kopfschüttelnd. »Ich
glaube, wir müssen ein größeres Omelette machen. Kannst du
das vielleicht übernehmen? Ich glaube, ich brauche ein bisschen
Ruhe.«
Zwanzig Minuten später setzten wir uns zum Essen. Obb hatte
sich einen Scheitel gekämmt, und Ibb trug eins von Grannys
karierten Kleidern.
»Hoffst du, eine Frau zu werden?« fragte ich und gab Ibb ei-nen Teller.
»Ja«, sagte sie, »aber nicht so eine wie Sie. Ich wäre gern ein
bisschen weiblicher und hilfloser. Von der Sorte, die immer
gleich spitze Schreie ausstößt und gerettet werden muss, wenn
Probleme auftauchen.«
»Wirklich?« sagte ich und reichte meiner Oma den Salat.
»Warum denn das?«
Ibb zuckte die Achseln. »Weiß auch nicht. Mir gefällt die Idee, gerettet zu werden, halt sehr. Die Vorstellung, dass starke
Arme mich wegtragen, finde ich irgendwie reizvoll. Und es wäre
schön, wenn mir immer jemand die Handlung erklärt. Ein paar
gute Zeilen will ich natürlich auch haben – und diesen berühmten weiblichen Instinkt, der am Schluss alles entscheidet.«
»Ich glaube, da findet sich bald eine Rolle«, seufzte ich. »Du
scheinst ja sehr genau zu wissen, worauf du hinauswillst. Hast
du ein bestimmtest Vorbild?«
»Die hier!« rief Ibb und zog ein leicht zerfleddertes Exemplar
von Silverscreen unter dem Tisch vor. Auf der Titelseite war
niemand anderes als Lola Vavoom zu sehen, die zum x-ten Mal
über ihren Ehemann, ihre (wie immer heftig geleugneten)
Schönheitsoperationen und ihren letzten Film interviewt wurde.
»Omi!« sagte ich streng, denn es gab keinen Zweifel, woher
das Blatt stammte. »Hast du ihr diese Zeitschrift gegeben?«
»Na, ja –«
»Du weißt doch, wie leicht sich Rohlinge beeinflussen lassen!
Warum hast du ihr keine Zeitschrift mit Jenny Gudgeon auf der
Titelseite gegeben? Die spielt wenigstens richtige Frauen – und
eine gute Schauspielerin ist sie auch.«
»Hast du Ms Vavoom in Gänseliesel gesehen?« fragte Granny
empört. »Du würdest staunen! Sie ist nämlich sehr vielseitig.«
»Sie wollten uns doch etwas über Subtext erzählen!« sagte
Obb und nahm sich noch ein wenig Salat.
»Ah, ja«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher