03 - Keiner wie Wir
und er sah zusehends seine Kräfte schwinden. Die Arme zitterten bereits und er wusste nicht, wie lange er noch durchhalten würde. Andererseits wäre er eher gestorben, als ihr das mitzuteilen oder sie vielleicht unter Hinweis der drohenden Gefahr zu bitten, ihm eine Verschnaufpause zu gönnen.
Ein Mann hatte nun mal seinen Stolz. Daniel versuchte auf anderem Wege, seine kleine Klette loszuwerden. Für den Moment, nur das! »Tina, wir müssen die Schuhe wechseln.«
Heftig schüttelte sie den Kopf, ihre Lippen wanderten dabei an seinem Hals entlang. »Nein!«
»Doch«, nickte er ernst. »Sonst können wir weder Kakao trinken noch irgendwas anderes unternehmen.«
Sie antwortete nicht, aber als er einen weiteren Versuch unternahm, sie auf ihre eigenen Füße zu stellen, widersetzte sie sich nicht. Sobald sie stand, wackelig, wegen der schmalen Kufen, griff sie jedoch nach seiner Hand. Und das mit einem grauenhaft flehenden, entschuldigenden Blick, der Daniels ohnehin bereits an mehreren Stellen mit gefährlichen Rissen versehenes, geschundenes Herz schließlich mit einem resignierten, leisen Knacken brach.
Verdammt!
Tina dachte nicht daran, eigenständig die Schuhe zu wechseln. Daher musste Daniel sich zunächst um ihre Füße kümmern, bevor er seine in Angriff nahm.
Als er sie danach zu jenem Verkaufsstand führen wollte, der die vergangenen knapp 13 Jahre wie der massivste Fels in der Brandung überdauert hatte und noch immer unermüdlich seine heißen Getränke unter die Leute brachte, blieb sie abrupt stehen und schüttelte den Kopf.
»Ich will nach Hause!«
Aufmerksam betrachtete er das verweinte Gesicht, die roten, geschwollenen Augen. Er empfand keine Enttäuschung, eher das vernichtende Gefühl grenzenloser Erleichterung. »In Ordnung. Lass uns heimgehen.«
Als sie sich wieder in Bewegung setzten, schwankte Tina zum ersten Mal tatsächlich und er fasste eilig zu, stützte sie, damit es nicht doch noch schiefging.
Sie hatten keine drei Meter bewältigt, als diesmal Daniel stehen blieb. »Moment ...« Fragend blickte sie zu ihm auf, und er bekam erneut Gelegenheit, in jene Augen zu blicken, von denen er viele Monate wie besessen geträumt hatte, denn er besaß nicht einmal ein Foto von ihr.
»Ich ...« Langsam schüttelte er den Kopf, der Hals war mit einem Mal wie zugeschnürt, und all die Worte, die so lebhaft in ihm wohnten, wollten sich plötzlich nicht mehr artikulieren lassen. »Ich … Gott, Tina, du hast keine Ahnung!«
»Nein ...« Mit zitternder Hand streichelte sie seine Wange. »Noch nicht. Und deshalb gehen wir jetzt nach Hause!« Es klang sehr fest und bestimmt, trotz des noch immer bebenden Luftholens. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und er neigte ihr den Kopf entgegen, bis ihre Lippen sich trafen.
Endlich.
Erst, als er sie eindeutig im Arm hielt, sie spüren durfte, dieser eine Kuss, den er so lange ersehnt hatte, Wirklichkeit wurde, bekam die gesamte Situation etwas Reales und Daniel wusste, dass er nicht träumte.
Es dauerte noch einmal sehr, sehr lange, bevor sie tatsächlich den Heimweg antraten.
* * *
ls Daniel die Appartementtür aufschloss, kam Francis ihnen mit leuchtenden Augen entgegen.
Wortlos umarmte sie ihren Bruder. Eine an sich äußerst interessante, weil unübliche Geste, ganz abgesehen von Dauer und Intensität. Dann nahm sie ebenso wortlos ihren Mantel und ging.
Stirnrunzelnd blickte Daniel seiner Schwester nach. Bevor er sich aber über diese seltsame Episode hinreichend wundern konnte, hatte Tina ihn schon ins Wohnzimmer gezogen, und der Gedanke an das seltsame Verhalten seiner Schwester wurde von der nächsten Schockwelle weggespült.
»Nein!«, sagte er tonlos.
»Also, ich finde es hübsch.« Tina hob die Schultern und brachte es sogar, unschuldig zu wirken.
Der Anblick war unverändert, als hätte Daniel den Raum gestern das letzte Mal gesehen – und klammheimlich dabei gewürgt.
Die bärtige Nixenlampe stand auf der Anlage, die hübschen gehäkelten Kissen zierten die Couch und die niedliche, pinkfarbene Lochdecke verhunzte nach wie vor seinen geliebten Sessel. Nur eine Veränderung konnte er überhaupt ausmachen und die vollendete den Versuch, den sprichwörtlichen Stilbruch zu fabrizieren:
Eine wunderbare, handwerklich einwandfrei gefertigte Ansicht von Tinas offenem Zimmer hatte tatsächlich ihren Platz direkt über der Couch gefunden.
Selbstverständlich in Originalgröße.
Kopfschüttelnd betrachtete Daniel das Desaster und musterte
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