03 - Keiner wie Wir
düsteren Prognosen vor ihr zu verbergen.
Lange Zeit hatte Daniel Juniors Grandpa seinem Enkel keine großen Chancen eingeräumt.
Jedes Familienmitglied und auch die Freunde entwickelten geschickte Praktiken, um die allgegenwärtige Traurigkeit zu tarnen.
Und jeder Einzelne scheiterte regelmäßig. Bemerkbar an den aufgesetzt fröhlichen Gesichtern und Gesprächsthemen, die zur Schau gestellt wurden, sobald sie aufeinandertrafen.
Nur kein Schweigen aufkommen lassen, das provozierte nämlich Fragen, Gedanken, ernste Mienen – Gefahr!
Dennoch setzte jene berühmt-berüchtigte, bedrückende und so aussagekräftige Stille zuverlässig nach einigen Minuten ein. Dann, wenn jeder Gag erzählt und jedes fadenscheinige Thema abgehandelt worden war.
Daher sahen sie sich mit fortschreitender Schwangerschaft immer seltener. Tom sorgte dafür, dass die Lebensmittelvorräte regelmäßig erneuert und der Briefkasten geleert wurden.
Dem gelang es nämlich noch am ehesten, wenigstens so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung.
* * *
S obald Jonathan auch nur annähernd sichergehen konnte, holte er das Baby.
Per Kaiserschnitt, er ging nicht das geringste Risiko ein.
Und eine halbe Stunde nach Verabreichung der örtlichen Narkose hielt Tina einen klitzekleinen und dennoch wunderbaren Sohn im Arm.
So rosig, neu, wunderschön und ganz offensichtlich gesund.
Das allgemeine Aufatmen im Kreißsaal hätte nicht lauter ausfallen können.
Seit seinem Verschwinden hatte niemand gewagt, den Namen zu erwähnen und so war Tina tatsächlich die Erste, die rund sieben Monate danach dieses Tabu brach.
»Daniel«, hauchte sie ergriffen und streichelte die kleinen Fingerchen, betrachtete die rosigen Wangen, die hübschen langen Wimpern und das rabenschwarze Haar.
Einer der seltsamsten emotionalen Cocktails suchte sie soeben heim.
Unendliches Glück, ihr Baby endlich im Arm halten zu dürfen. Nach all den Mühen und Entbehrungen der vergangenen Monate, die längst vergessen waren.
Hinzu gesellte sich überwältigende Trauer und ja, ohnmächtige, aber glühende Wut, auf den grauenhaften, nicht näher definierten Schatten, der dafür gesorgt hatte, dass er dieses Wunder niemals sehen würde.
Ganz plötzlich unterteilte sich die Bedeutung dieses besonderen Namens.
Der Unaussprechliche, dieses Daniel …, das sie nicht einmal in ihrem Kopf zu hauchen wagte, blieb das Tabu, das es seit vielen Wochen darstellte.
Doch es gab auch Daniel, ihren größten Schatz. Dieses Wort benutzte sie ab sofort täglich unzählige Male. Faktisch ohne Unterschied, waren es dennoch zwei Welten. Und nicht nur für sie, Tina wusste, dass es allen anderen ähnlich erging.
Das Baby war nicht nur ihr Juwel, sondern die größte Kostbarkeit der gesamten Familie. Tina brauchte keine Sekunde, um das zu begreifen, und es bereitete ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten, zu teilen. Denn sie wusste, dass sie auf die anderen bedingungslos zählen konnte und ohne deren Unterstützung dieses Wunder niemals zustande gebracht hätte.
Niemand sagte es, natürlich nicht, das Thema wurde ja ohnehin gemieden wie die verheerendste Seuche. Trotzdem waren alle davon überzeugt, dass Er, dessen Name niemals genannt wurde , längst nicht mehr lebte.
Sie wussten es …
* * *
… jedenfalls ging Tina lange Zeit davon aus.
Es hatte ein wenig gedauert, bevor sie nach Daniels Rückkehr dahinterkam, dass die anderen es eben nicht genau gewusst hatten. Das Gegenteil war der Fall.
Wie weit dieses Schweigen tatsächlich gegangen war, konnte und wollte sie nicht herausfinden. Es war kein gutes Gefühl, von allen belogen und betrogen worden zu sein.
Tina genügte zu wissen, wo das Komplott seinen Ursprung genommen hatte.
Wütend stellte sie Jonathan zur Rede, sobald sie ihn zu Gesicht bekam. »Wie konntest du es wagen, es vor mir zu verheimlichen? Warum … warum hast du mich in all den Monaten glauben lassen, dass er ...« Auch jetzt noch gelang es ihr nicht, das Unaussprechliche endlich zu artikulieren. Die Tränen, nie weit weg, drohten bereits wieder, sie zu überwältigen.
Der Doktor ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, möglicherweise hatte er auf ihren Angriff auch nur gewartet. Sein Lächeln fiel etwas mühsam aus und zum ersten Mal sah Tina, wie alt ihr Schwiegervater geworden war. Das lag nicht nur an dem plötzlich weißen Haar, sondern besonders an den Augen, die jeden Glanz verloren hatten. Allerdings zähmte auch diese Erkenntnis ihren Groll nicht
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