03 - komplett
geblieben war. Er hatte seine Schwäche zur Schau gestellt und sich unhöflich gegenüber Menschen verhalten, die er mochte und als Freunde bezeichnete.
„Es wäre schön, wenn wir das Streiten sein lassen könnten.“ Sylvies sanfte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Da Sie sich entschuldigt haben, möchte ich dies auch tun.“ Sie suchte nach den richtigen Worten, mit denen sie ihr Gewissen erleichtern konnte. „Als wir uns im George and Dragon begegneten, hätte ich nicht so leichtfertig unterstellen sollen, dass die Dame in Ihrer Begleitung, eine ... also, ich will sagen, ich hätte nicht so unverschämt über Ihre Schwägerin reden sollen.“ Sie hätte noch mehr darüber sagen können, in welch schrecklicher Weise diese Frau den eigenen Gatten gedemütigt hatte, aber sie wollte nicht selbstgerecht klingen. Ihr eigenes Verhalten hatte an jenem Abend ebenfalls zu wünschen übrig gelassen.
Verlegen blickte sie Adam an, doch seine Miene blieb verschlossen. „Sind die Verletzungen Ihres Bruders sehr schlimm?“, fragte sie leise.
„Ja, das sind sie“, antwortete Adam ebenso leise und blickte in die Dunkelheit. „Das Laufen ist für Jake sehr beschwerlich, da sein rechtes Bein gelähmt ist. Und weil er sich nicht recht bewegen kann, wird er zunehmend schwächer. Das Geschoss hat seine Brust in der Nähe des Herzens getroffen, und obwohl sich diese Wunde schnell schloss, litt er später unter Blutvergiftung. Niemand hatte erwartet, dass er die Reise in die Heimat überlebt. Man hat mir einmal sogar gesagt, er sei tot.“
Mit vor Mitgefühl schimmernden Augen blickte Sylvie ihn an. „Vielleicht kann ihm ein Arzt helfen.“ Kaum hatte sie die Äußerung getan, tat sie ihr leid. Lord Rockingham sorgte sich offenkundig sehr um seinen Bruder, hatte sogar die weite Reise nach Norden unternommen, um dessen abtrünnige Gattin nach Hause zu holen und ihm die Demütigung zu ersparen, zum Gespött zu werden. Sicher hatte er bereits alles in Erwägung gezogen, was seinem Bruder helfen konnte. „Ich nehme an, Sie wissen bereits, welche medizinischen Möglichkeiten es gibt“, ergänzte sie ein wenig beschämt.
Adam lächelte flüchtig. „Mehr als zehn Ärzte haben Jake untersucht. Einige haben uns Wunderkuren versprochen, andere nur, dass sie ihr Bestes geben würden. An Jake wurde in jeder möglichen Weise herumgedoktert, er hat zahllose Pillen und Tränke geschluckt. Jetzt weigert er sich, weitere Behandlungen auf sich zu nehmen, und bezeichnet die Doktoren als Quacksalber und Scharlatane.“ Adam schaute wieder in die Ferne. Er wusste, dass Jake in gewisser Weise gar nicht gesund werden wollte, denn durch seinen bemitleidenswerten Zustand, seinen vernarbten Körper, konnte er ihn schwerer treffen als mit einem Schlag des schwarzen Ebenholzgehstocks, den er brauchte, um sich aufrecht zu halten.
„Manchmal ist ein einfaches Mittel wirksamer als alle Kuren. Meine Schwester Isabel kennt sich mit Kräuterheilmitteln aus. Ich weiß noch, dass sie einmal in York bei unserer Tante Florence einem kleinen Jungen geholfen hat, der vom Rad der Wassermühle gefallen war. Sein Arm war furchtbar geschunden. Isabel mischte irgendwelche Kräuteröle und rieb den Jungen damit ein, als die Ärzte ihm nicht weiterhelfen konnten. Sie gab die Massage nicht auf, und obwohl er nicht wieder vollkommen genas, so konnte er doch seinen Arm nach einer Weile wieder nutzen, was alle erstaunte.“
Sie schaute Adam an, wartete auf eine Reaktion. „Gewiss wäre doch so etwas einen Versuch wert? Soll ich meiner Schwester schreiben und sie um Rat bitten?“
Adam drehte sich zu ihr um und bemerkte die Fürsorge, die sich in ihrer Miene spiegelte. Eine Welle der Zärtlichkeit überflutete ihn. Obwohl sie seinen Bruder gar nicht kannte, lagen Sylvie seine Gesundheit und sein Glück mehr am Herzen als seiner eigenen Gattin. Er wusste, dass Jake alle Hilfsangebote ablehnen würde, wahrscheinlich in unverschämtem Ton mit zahllosen Flüchen garniert, aber er sagte dennoch: „Danke, Sylvie, das ist sehr freundlich von Ihnen.“
Sylvie lächelte bescheiden. „Ich schreibe ihr gleich morgen. Ich weiß, dass Isabel einen Wickel für Sir Anthonys schlimmes Bein vorbereitet.“ Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und wandte rasch den Kopf zur Seite. „Es ist ungewöhnlich warm, bedenkt man, dass es noch Frühling ist. Fast könnte man glauben, wir hätten bereits Sommer.“
Adam lehnte sich ans Geländer und schaute in den Nachthimmel.
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