03 Nightfall - Zeiten der Finsternis
Seite neigte. Dann schenkte sie ihm Tee in einen henkellosen Becher.
Lucien sah sich währenddessen um: blauer Marmor, hohe Säulen mit Reliefs der Geschichte Gehennas, luxuriöse Diwane, Stühle, elegante Tischchen sowie Lampen mit einem weichen, warmen Licht, und am Eingang eines Torbogens, der in den Horst selbst führte, standen jeweils zwei Wachen.
Der königliche Horst.
Man konnte sich kaum etwas Gegensätzlicheres zu den flammenden Gluten Sheols und den Haken dort vorstellen. Ein schnelles Zusammenziehen seiner Flügel zeigte Lucien, dass diese noch gefesselt waren.
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte die Frau, drehte sich zu ihm um und reichte ihm den Becher. Er nahm ihren Geruch wahr: Apfelblüte und kühles, im Schatten liegendes Wasser.
Er runzelte die Stirn und hielt den Porzellanbecher mit beiden Händen fest, um diese ein wenig zu wärmen. »Ich weiß nicht mehr, welche Frage du gestellt hast.«
»Ich fragte, ob du vielleicht weißt, wo meine Mutter sein könnte«, erwiderte sie. »Ich habe gehört, sie habe unten in Sheol mit dir geredet, als der Creawdwr seine Gegenwart hörbar machte …«
»Deine Mutter?«
»Lilith. Ich bin ihre Tochter Hekate.«
Lucien ließ den Becher sinken und blickte sie an. Das helle, farblose Haar und diese durchdringenden, veilchenblauen Augen – natürlich. Die Tochter Liliths und des Morgensterns. Kein Wunder, dass sie ihm vertraut vorgekommen war. Seine Muskeln krampften, als er daran dachte, wie er Lilith von Dantes Existenz erzählt hatte, wohingegen sie kein einziges Mal etwas von ihrem Kind gesagt hatte.
Dennoch ließen die Worte ihrer Tochter ihn bis ins Mark erstarren. »Warum kannst du Lilith nicht kontaktieren? Blockiert sie eure Verbindung?«
»Nein. Es ist eher so …« Hekate wandte den Blick ab und fuhr mit einem Finger über einen der delikat-eleganten Schlangenköpfe auf dem Silberreif um ihren Hals. »Es ist eher so, als existiere sie nicht mehr. Unsere Verbindung ist nicht durchtrennt. Es scheint, als hätte es sie nie gegeben.«
»Was ist mit dem Morgenstern? Konnte er sie erreichen?«
»Er meint, er sei zu beschäftigt, um sich um Lilith Sorgen zu machen, und ist angeblich sicher, dass es ihr gutgeht.«
»Aber du glaubst ihm nicht.«
»Nein.«
»Also ist er noch in der Welt der Sterblichen.«
»Ja«, seufzte Hekate. Ihre Hand löste sich von ihrem Halsreif, und sie ließ den Arm wieder sinken. Sie trat auf die Terrasse und ging zu der weißen Marmorbalustrade. Diese schritt sie mehrmals ab, während sie mit den Fingern über den Marmor strich.
Lucien trank den Rest des Tees. Sein Herz schlug nun noch ungestümer und lauter. Lilith befand sich vielleicht einfach nur außer Reichweite, um ihre Tochter zu beschützen – vor allem, wenn sich der Morgenstern auf die Suche nach ihr gemacht hatte und sie den Creawdwr in Sicherheit wissen wollte.
Zumindest hoffte er das. Andere, düsterere Möglichkeiten schossen ihm durch den Kopf: Dante in der Gewalt des Morgensterns; Lilith tot; Lilith von dem endgültig wahnsinnig gewordenen Dante umgebracht; Dante daraufhin vom Morgenstern gejagt.
Lucien verdrängte diese alptraumartigen Szenarien. Das konnte nicht sein.
»Ich hatte bis letzte Nacht noch nie zuvor ein Anhrefncathl gehört«, erklärte Hekate. »Ich habe nie einen Creawdwr gekannt und dachte auch nicht, dass ich eines Tages einen kennenlernen würde. Das Lied des Creawdwrs war so schön und wild, so ungebremst – es strömte wie flüssige Nacht in mich. Makellos, urtümlich und dunkel. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares erlebt.«
»Hat man den Erschaffer gefunden?«, fragte Lucien, der den Becher noch fester hielt.
»Schwer zu sagen«, meinte Hekate. »Es gab keinen Kontakt zu den Botschaftern, die Gabriel und mein Vater ausgeschickt haben. Auch sie kann keiner erreichen, fast als hätten auch sie nie existiert.«
Alles, was Hekate erzählte, bestätigte Luciens Vermutung, dass etwas schrecklich schiefgelaufen war. Er wollte es nicht riskieren, Lilith oder Von zu kontaktieren, da er befürchtete, so Gabriel oder den Morgenstern zu Dante zu führen. Was eine weitere Frage aufwarf.
»Warum bin ich hier und nicht mehr in Sheol?«, wollte er wissen.
Hekate blieb stehen. Sie drehte sich zu Lucien um. »Weil du früher einmal der Vertraute meiner Mutter warst, ihr Cydymaith , und da dachte ich …« Ihr Blick wanderte an Lucien vorbei, und sie brach ab.
»Weil ich es angeordnet habe.« Gabriels honigsüße Stimme
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