03 - Tod im Skriptorium
ihre Dreistigkeit, sie von Seinem heiligen Tisch zu entfernen. Dann kehrte sie zu der Platte zurück, zündete die Kerze an und stellte sie auf den Boden. Sie kniete sich wieder hin und schob an der Platte. Sie bewegte sich noch ein Stück und blieb dann wie an einem Hindernis hängen.
Enttäuscht hielt Fidelma einen Augenblick inne. Wahrscheinlich gab es hier einen verborgenen Mechanismus, den sie entdecken mußte.
Sie ging um die Platte herum und schob sie zurück, als wolle sie die Gruft schließen.
In dem Moment wurde ihr die Funktionsweise des Mechanismus klar, denn sie sah, wie sich die kleine Statue des Cherub am Kopfende der Platte bewegte.
Rasch eilte Fidelma zu der Figur, packte sie und drehte sie in die entgegengesetzte Richtung.
Je weiter sie sie drehte, desto weiter wurde die Platte beiseite geschoben und gab eine größere Öffnung im Boden frei. Das flackernde Licht ihrer Kerze fiel auf Treppenstufen.
Sie nahm die Kerze und stieg vorsichtig die Treppe hinunter in die Gruft.
Sie gelangte in eine feucht und modrig riechende Krypta, die etwa sechs Meter unter dem Boden der Kirche lag. Der Raum war einfach, so weit sich das im Licht der Kerze erkennen ließ, und ungefähr zehn Meter lang und fünf Meter breit. Gebaut war er wie eine verkleinerte Nachbildung der großen Kirche darüber, mit einer Steinplattform an einem Ende wie ein Hochaltar. Nur daß es kein Altar war, wie Fidelma feststellte, sondern ein steinerner Sarkophag mit einer Steinplatte als Deckel. Die Inschrift darauf war in Ogham und in lateinischen Buchstaben geschrieben und in Irisch und in Latein abgefaßt. Sie erklärte dem Leser, daß hier Fachtna, der Sohn des Mongaig, ruhte.
Sie entdeckte Kerzenhalter in der Grabstätte und besah sie sich neugierig. Der Talg war nicht kalt, wenn auch nicht mehr knetbar. Die Kerzen hatten gebrannt, und zwar vor noch nicht langer Zeit.
In einer Ecke sah sie ein Bündel Kleider liegen. Bei näherer Betrachtung erkannte sie auch ein paar Decken, als ob jemand in dem Gewölbe geschlafen hätte. Daneben standen ein Krug Wasser und eine Schale mit Obst. Plötzlich fiel ihr auf der Schlafstatt ein Stück Pergament ins Auge.
Ihr war sofort klar, daß dort die Dinge lagen, die aus ihrem marsupium gestohlen worden waren: Der Entwurf Dacáns für den Brief an seinen Bruder, der angebrannte Ogham-Stab und einige andere Gegenstände aus der Bibliothek, die sich auf die Familie Illan bezogen. Sie lagen dort wie weggeworfen.
Endlich ordneten sich alle Einzelheiten und fügten sich zu einem Bild zusammen. Es war schade, daß Cass das nicht mehr miterlebte.
Ein Geräusch über ihr ließ sie zusammenzucken.
Jemand war am Hochaltar in der Kirche und stand an der offenen Gruft.
Sie erkannte, daß ihr der Rückweg in die Kirche jetzt versperrt war, wenn sie nicht entdeckt werden wollte. Sie ging rasch zu dem Sarkophag, um sich dahinter zu verbergen. Nun konnte sie Stimmen vernehmen.
»Seht euch das an«, hörte sie eine bekannte Stimme. »Ich dachte, ich hätte euch gesagt, ihr sollt die Platte schließen, als wir gingen?«
Eine jüngere Stimme, die sie als Cétachs erkannte, antwortete: »Ich dachte, ich hätte es getan, Bruder. Ich bin sicher, daß ich sie nicht so weit offen gelassen habe, wie sie jetzt ist.«
»Ganz gleich. Geht jetzt runter. Ich komme zur üblichen Zeit und lasse euch raus. Aber verhaltet euch morgen absolut ruhig, denn das Gericht wird direkt über euch tagen. Keinen Ton. Denkt daran, beim Gottesdienst in der vorigen Woche habt ihr beinahe alles verraten. Ein Schrei, und sie finden den Weg hinunter zu euch. Und wenn sie ihn finden, dann werden wir es alle zu bereuen haben.«
Eine andere Kinderstimme begann schluchzend zu protestieren.
Die Stimme Cétachs ermahnte die jammernde Stimme, die sicherlich Cosrach gehörte.
»Es dauert nicht mehr lange«, sagte die erste Stimme in besänftigendem Ton. »Vater und ich werden euch in den nächsten Tagen von hier fortschaffen können.«
»Kommt Vater mit uns?« fragte Cétachs Stimme.
»Ja. Bald sind wir alle zu Hause in Osraige.«
Fidelma hörte leise Schritte die Treppe herunterkommen. Es war wenig sinnvoll, die Söhne Illans zu diesem Zeitpunkt zu stellen. Sie mußte noch ein paar Verbindungsstücke einpassen, bevor sie das Rätsel vollständig lösen konnte.
Zu ihrer Überraschung fand sie hinter dem Sarkophag eine dunkle Öffnung, und statt ihre Kerze zu löschen, was sie gerade tun wollte, ging sie in die Dunkelheit hinein. Es war
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