03 - Tod im Skriptorium
zu bringen. Du glaubst an die Bestrafung der Mörder, selbst wenn du dazu das Schwert gegen sie erheben mußt. Du siehst nicht tatenlos zu und sagst, es sei Gottes Wille. Ich habe gehört, wie ein Gottesmann die Brehons ebenfalls mit den Worten des Matthäus verdammte. ›Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet‹, sagte er. Ihr Anwälte des Gesetzes ignoriert Matthäus’ Worte in dieser Sache, also ignoriere ich Matthäus’ Worte gegen den Schwertberuf.«
Fidelma seufzte.
»Du hast recht. Es ist schwer, immer ›die andere Wange hinzuhalten‹. Wir sind eben nur Menschen.«
Irgendwie war sie nie ganz glücklich gewesen mit Lukas’ Wiedergabe von Jesus’ Worten, wenn jemand einem den Mantel stehle, dann solle man dem Dieb auch den Rock noch geben. Damit ermunterte man den Übeltäter doch zu weiterem Diebstahl und Verbrechen und machte sich ebenso schuldig. Aber laut Matthäus sagte Jesus auch: »Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider ihre Mutter und die Schwiegertochter wider die Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.« Das war verwirrend, und Fidelma hatte sich lange damit herumgeschlagen.
»Vielleicht verlangt der Glaube zuviel von uns?« unterbrach Cass ihr Nachdenken.
»Vielleicht. Doch was die Menschheit von sich verlangt, sollte immer über das Erreichbare hinausgehen, sonst gäbe es keinen Fortschritt im Leben.« Sie lächelte jungenhaft. »Du mußt entschuldigen, Cass, manchmal versuche ich nur festzustellen, wie stark im Glauben ich bin.«
»Das brauche ich nicht«, erwiderte Cass ungerührt.
»Dann ist dein Glaube fest.« Fidelma gelang es nicht, den Spott in ihrer Stimme zu verbergen.
»Warum sollte ich an dem zweifeln, was die Prälaten predigen?« fragte Cass. »Ich bin ein einfacher Mensch. Sie haben seit Jahrhunderten über diese Fragen nachgedacht, und wenn sie sagen, das ist so, dann muß es wohl so sein.«
Fidelma schüttelte traurig den Kopf. In solchen Augenblicken vermißte sie die lebhaften Diskussionen, die sie mit Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham geführt hatte.
»Christus ist Gottes Sohn«, sagte sie bestimmt. »Deshalb würde Er den Appell an die Vernunft billigen, denn wo es keinen Zweifel gibt, kann es auch keinen Glauben geben.«
»Du bist eine Philosophin, Fidelma von Kildare. Ich hatte nicht erwartet, daß eine Nonne ihren Glauben in Frage stellt.«
»Ich habe zu lange gelebt, um nicht skeptisch zu werden, Cass von Cashel. Man sollte skeptisch durchs Leben gehen und an allem zweifeln, besonders an sich selbst. Doch jetzt sollten wir besser schlafen. Morgen haben wir viel zu tun.«
Sie erhob sich, und Cass folgte widerwillig ihrem Beispiel.
Als er das Zimmer verlassen hatte, legte sie sich auf das Bett, und diesmal löschte sie die Lampe.
Sie versuchte sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie über den Tod des Ehrwürdigen Dacán erfahren hatte. Sie merkte aber, daß sich andere Gedanken in ihren Sinn drängten. Sie betrafen Eadulf von Seaxmund’s Ham. Wenn sie an ihn dachte, fühlte sie sich immer merkwürdig einsam, verspürte sie fast so etwas wie Heimweh.
Ihr fehlten die Diskussionen mit Eadulf. Ihr fehlte die Art, wie sie ihn mit ihren verschiedenen Meinungen und Philosophien necken konnte, wie er gutmütig immer wieder darauf einging. Sie konnten sich heftig streiten, aber es gab keine Feindschaft zwischen ihnen. Beide lernten daraus, wenn sie ihre Ansichten gegenseitig prüften und ihre Ideen austauschten.
Eadulf fehlte ihr. Das konnte sie nicht leugnen.
Cass war ein einfacher Mensch. Er war angenehm im Umgang und ein tüchtiger Begleiter. Doch er besaß nicht den bissigen Humor, den sie brauchte, nicht den breiten Wissenshorizont, an dem sie ihr eigenes Wissen messen konnte. Cass erinnerte sie ein wenig an einen jungen Krieger namens Cian, in den sie sich mit siebzehn verliebt hatte. Er gehörte der Leibgarde des damaligen Großkönigs Cellach an. Cian hatte nichts für ihren Hang zum Philosophieren übrig und hatte sie schließlich wegen einer anderen verlassen. Darüber war sie sehr enttäuscht gewesen Sie hatte das nicht vergessen, nicht wirklich überwunden.
Eadulf von Seaxmund’s Ham war der einzige Mann ihres Alters, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich ungezwungen bewegen und mit dem sie reden
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