03 - Tod im Skriptorium
Nacht ein, nicht später.«
Fidelma spürte, daß die Öllampe auf dem Tisch neben dem Bett erneut ihre Aufmerksamkeit fesselte.
»Dacán wurde irgendwann gegen Mitternacht ermordet«, überlegte sie. »Doch als man ihn fand, brannte die Öllampe noch.«
Cass hatte die ganze Zeit schweigend zugehört, wie Fidelma Bruder Tóla befragte, jetzt sah er sie voller Spannung an.
»Warum betonst du das, Schwester?« fragte er.
Fidelma ging zu der Lampe und hob sie noch einmal vorsichtig an, um kein Öl zu verschütten. Wortlos und ebenso vorsichtig gab sie sie Cass in die Hand. Er nahm die Lampe und sah Fidelma mit wachsender Verwirrung an.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte er.
»Fällt dir etwas an der Lampe auf?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie ist noch mit Öl gefüllt. Wenn es immer noch dieselbe Lampe ist, kann sie nicht länger als eine Stunde gebrannt haben, bevor Bruder Conghus die Leiche entdeckte.«
Schwester Fidelma saß auf dem Bett in ihrem Zimmer, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrte nach oben in die Dunkelheit. Sie hatte beschlossen, daß sie für diesen Tag genug getan hatte. Sie hatte Bruder Tóla für seine Unterstützung gedankt und ihn gebeten, sich darum zu kümmern, daß Bruder Martan ihr am nächsten Morgen die Stoffstreifen übergab, mit denen Dacán gefesselt wurde. Dann hatte sie Schwester Necht eine »gute Nachtruhe« gewünscht und ihr aufgetragen, sich am Morgen mit Bruder Rumann bei ihr zu melden.
Sie und Cass hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen, doch statt sofort in den Schlaf zu sinken, saß sie jetzt zurückgelehnt auf ihrem Bett und ließ verschwenderisch die Lampe brennen, während sie über das nachdachte, was sie bisher erfahren hatte.
Es war ihr nun klar, daß ihr ihr Vetter, Abt Brocc, nicht alles erzählt hatte. Warum hatte er eine Woche vor Dacáns Tod Bruder Conghus befohlen, ein wachsames Auge auf ihn zu haben? Danach würde sie Brocc fragen müssen.
Es klopfte leise an der Tür ihres Zimmers.
Sie rutschte vom Bett und öffnete.
Draußen stand Cass.
»Ich sah, daß bei dir noch Licht brennt. Ich hoffe, ich störe nicht, Schwester?«
Fidelma schüttelte den Kopf, ließ ihn eintreten und bot ihm den einzigen Stuhl an, den es im Zimmer gab, während sie sich wieder auf das Bett setzte. Anstandshalber ließ sie die Tür offen. In manchen Gemeinschaften lösten neue Moralvorschriften die alten ab. Viele Kirchenführer wie Ultan von Armagh predigten gegen das Fortbestehen gemischter Gemeinschaften und vertraten sogar die unpopuläre Auffassung, die höheren Geistlichen müßten im Zölibat leben.
Sie wußte, daß eine dem heiligen Patrick zugeschriebene Enzyklika im Umlauf war, die fünfunddreißig Regeln für die Anhänger des Glaubens enthielt. Die neunte Regel schrieb vor, daß ein unverheirateter Mönch oder eine Nonne, die aus verschiedenen Orten stammten, nicht in demselben Haus oder Gästehaus wohnen, nicht in demselben Gefährt von Haus zu Haus reisen und nicht frei miteinander reden dürften. Nach der siebzehnten Regel sollte eine Frau, die Keuschheit gelobt und danach geheiratet hatte, exkommuniziert werden, wenn sie nicht ihren Ehemann verließ und Buße tat. Fidelma war empört darüber, daß dieses Dokument im Namen Patricks und seiner Mitbischöfe Auxilius und Iserninus verbreitet wurde, denn es stand im Widerspruch zu den Gesetzen der fünf Königreiche. Was sie zuerst an seiner Echtheit zweifeln ließ, war die erste Regel, wonach jedem Mitglied einer Glaubensgemeinschaft, das sich auf weltliche Gesetze berief, die Exkommunikation drohte. Schließlich hatte vor zweihundert Jahren der heilige Patrick selbst dem Ausschuß von neun Männern angehört, den der Großkönig Laoghaire eingesetzt hatte, um das Zivil- und Strafrecht der fünf Königreiche in neue Form zu fassen.
Für Fidelma war die Verbreitung dieser »Regeln des ersten Rates des heiligen Patrick«, wie sie genannt wurden, eine weitere Propagandaaktion aus dem Lager der prorömischen Fraktion, die das Glaubensleben in den fünf Königreichen Éireanns allein von Rom bestimmt sehen wollte.
Plötzlich wurde ihr bewußt, daß Cass etwas gesagt hatte.
»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich verlegen, »ich war in Gedanken meilenweit weg. Was meintest du?«
Der junge Krieger streckte seine Beine vor dem Stuhl aus.
»Ich sagte, mir ist zu der Lampe etwas eingefallen.«
»So?«
»Es ist klar, daß sie jemand aufgefüllt hatte, als Dacáns Leiche gefunden
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