03 - Tod im Skriptorium
Blutflecken. Der Stoff selbst war blau und rot. Die Streifen waren ausgefranst und wirkten brüchig. Fidelma nahm einen, packte die Enden mit je einer Hand und zog kräftig. Der Stoff zerriß sofort.
»Nicht sehr wirksam als Fessel«, stellte Cass fest.
Fidelma sah ihn anerkennend an.
»Nein«, sagte sie nachdenklich, wickelte die Leinenstreifen wieder ein und steckte sie in ihre große Tasche. »Jetzt, Schwester Necht, führe uns bitte zu Schwester Grella in die Bibliothek.«
Zu ihrer Überraschung schüttelte das Mädchen den Kopf.
»Das kann ich nicht tun, Schwester.«
»Wieso nicht?« fragte Fidelma gereizt.
»Der Abt hat mich losgeschickt, damit ich dich suche und zu ihm bringe. Er sagt, er muß dich sofort sprechen.«
»Na schön«, sagte Fidelma widerwillig. »Wenn Abt Brocc mich sprechen will, dann muß ich zu ihm gehen. Doch weshalb ist das so dringend?«
»Vor zehn Minuten ist Salbach, der Fürst der Corco Loígde, hier eingetroffen, auf eine Nachricht hin, die ihm Brocc gesandt hat. Der Fürst scheint äußerst erbost zu sein.«
K APITEL 8
Fidelma und Cass folgten Schwester Necht, die ihnen zu den Räumen des Abts voranging. Als die Novizin merkte, daß Cass mitkam, blieb sie verlegen stehen.
»Was gibt’s?« wollte Fidelma wissen.
»Ich soll nur dich zum Abt bringen, Schwester«, erklärte sie mit einem entschuldigenden Blick auf Cass.
»Na gut«, seufzte Fidelma. »Du kannst im Gästehaus auf mich warten, Cass.«
Der hochgewachsene Krieger zog ein etwas enttäuschtes Gesicht, kehrte aber um. Die breitschultrige junge Nonne war ziemlich aufgeregt und eilte voran, während Fidelma ihr gemessenen Schrittes folgte. Die Novizin mußte mehrmals stehenbleiben und auf sie warten. Fidelma ließ sich nicht antreiben, sie hatte nicht vor, aufgeregt und atemlos vor dem Abt und dem Fürsten der Corco Loígde zu erscheinen.
»Schon gut, Necht«, meinte Fidelma schließlich, »von hier aus kenne ich den Weg zu den Räumen des Abts, du kannst mich unbesorgt allein lassen.«
Das Mädchen wollte anscheinend protestieren, aber dann nickte es gehorsam und verschwand.
Fidelma ging weiter über den gepflasterten Hof zu dem Gebäude, in dem die Zimmer des Abts lagen. Sie war gerade in den schmalen, dunklen Gang getreten und hatte die Treppe erreicht, die in den zweiten Stock führte, als sich aus der Dunkelheit ein Schatten löste.
»Schwester!«
Fidelma blieb stehen und spähte gespannt ins Dunkel. Die Gestalt kam ihr bekannt vor.
»Bist du das, Cétach?«
Der Junge trat ins trübe Licht.
»Ich muß mit dir sprechen«, flüsterte er, als fürchte er, jemand könne ihnen zuhören. Er wirkte verängstigt.
»Im Augenblick geht das schlecht«, erwiderte Fidelma. »Ich bin auf dem Weg zum Abt. Treffen wir uns später …«
»Nein, warte!« Es war beinahe ein Verzweiflungsschrei. Cétach packte Fidelmas Arm.
»Was ist? Wovor fürchtest du dich?«
»Salbach, der Fürst der Corco Loígde, ist beim Abt.«
»Das weiß ich«, antwortete Fidelma. »Aber wovor hast du Angst, Cétach?«
»Wenn du mit ihm sprichst, sag ihm nichts von mir und meinem Bruder.«
Fidelma ärgerte sich darüber, daß sie im Dunkeln das Gesicht des Jungen nicht besser sehen konnte.
»Hast du Angst vor Salbach?«
»Das ist eine lange Geschichte, das kann ich dir jetzt nicht erklären, Schwester. Bitte erwähne uns nicht. Sag nicht einmal, daß du uns kennst.«
»Warum? Was habt ihr von Salbach zu befürchten?«
Der Griff des Jungen an ihrem Arm wurde noch fester.
»Bitte, Schwester!« Seine Stimme war so voller Angst, daß Fidelma beruhigend seine Schulter tätschelte.
»Nun gut«, sagte sie. »Ich gebe dir mein Versprechen. Doch wenn ich fertig bin, müssen wir miteinander reden, und du mußt mir sagen, was das alles zu bedeuten hat.«
»Du versprichst, daß du uns nicht erwähnst?«
»Das verspreche ich«, antwortete sie ernst.
Der Junge wandte sich schnell ab und verschwand in der Dunkelheit. Fidelma starrte ihm verwundert nach.
Sie seufzte tief und stieg langsam die Treppe empor.
Abt Brocc wartete schon ungeduldig auf sie. Offensichtlich war er vor seinem Tisch auf und ab gegangen und bei ihrem Eintreten stehengeblieben. Ihr Blick fiel sofort auf einen Mann, der träge vor dem großen Kamin lümmelte. Er hatte sich in dem geschnitzten Holzsessel, der gewöhnlich dem Abt vorbehalten war, zurückgelehnt, ließ ein Bein über die Lehne hängen und hielt einen großen Becher mit Wein in der Hand. Er sah gut aus mit
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