030 - Bei den drei Eichen
ich aufstehen?«
Die Frau zögerte.
»Na ja, meinetwegen«, entschied sie endlich. »Aber Sie müssen sich in meiner Gegenwart ankleiden.«
Molly erhob sich. Ihr Kopf schwindelte; das Stechen hatte jedoch nachgelassen.
»Sie wissen wohl, daß Sie nur mit einem Schuh hier angekommen sind?« bemerkte Mrs. Barn. »Ich werde Ihnen ein Paar von mir leihen.«
Sie holte ein Paar scheußliche Stiefel, die bei jedem Schritt, den das junge Mädchen tat, laut knarrten - ein weiteres Hemmnis bei einem Fluchtversuch!
Zu Mollys Überraschung hatte Mrs. Barn gegen einen Spaziergang im Garten nichts einzuwenden - sie kannte sich in der Pflege Gemütskranker aus und wußte genau, wieviel Freiheit sie gewähren durfte. Außerdem hatte sie mit geschultem Auge die Örtlichkeit überflogen und die Unmöglichkeit erkannt, ohne fremde Hilfe über die Mauer zu gelangen. Leitern gab es nicht, und das Tor konnte sie von der Küche aus beobachten, außerdem war es abgeschlossen.
Langsam schritt Molly durch das hohe Gras, hin und wieder einige der wilden Blumen pflückend und immer nach einem Weg in die Freiheit ausspähend. Nicht ein Baum wuchs auf dem Grundstück, dagegen Strauch- und Buschwerk in wilder Fülle. Zweimal machte sie die Runde um das Haus, und mehr und mehr erlosch jeder Hoffnungsschimmer. Vielleicht konnte sie einen Zettel über die hohe Mauer werfen . . .? Sie ging zurück in ihr Zimmer und suchte nach einem Stück Papier. In wahnsinniger Hast stülpte sie ihre große Handtasche um - wie nichts ahnend hatte sie sie im Prinzenhof gepackt! -, aber weder Papier noch Bleistift kamen zum Vorschein.
Das einfache Abendessen nahm sie gemeinsam mit Mrs. Barn im Speisezimmer ein, dem die Petroleumlampe nur eine spärliche Helligkeit verlieh. Ein trostloser Raum, trotz des kleinen Feuers, das im Kamin flackerte. Und obwohl Mrs. Barn, wie sie mürrisch erzählte, das Zimmer stundenlang gesäubert und gescheuert hatte, sah es immer noch verwahrlost aus.
»Ich bin grobe Hausarbeit nicht gewohnt«, beschwerte sich die Frau, »und wenn Ihr Gatte kommt . . .«
»Er ist nicht mein Gatte«, versicherte Molly erregt. Aber die Nutzlosigkeit ihres Protestes erkennend, fuhr sie fort: »Also was ist, wenn er kommt?«
»Dann sagen Sie ihm bitte, daß das Dienstmädchenarbeit ist. Sie können sich keine Vorstellung davon machen, wie es hier ausgesehen hat, als ich vor zwei Tagen ankam. Am liebsten wäre ich sofort wieder umgekehrt, Schauen Sie sich das mal an!« Sie deutete auf das Loch in der Decke, das Socrates Smith mit dem Taschenmesser gebohrt hatte. »Ratten . . . scheint mir! Und alle diese Tintenkleckse auf dem Fußboden. Entsetzlich! In den Keller habe ich mich noch gar nicht hineingetraut!«
»Es gibt auch einen Keller?« fragte das junge Mädchen.
»Ja. Später kann er mir vielleicht mal nützlich sein.« Sie dachte wohl schon an widerspenstige Patienten, für die er eine geeignete Schlafstelle abgeben könnte.
Bis drei Uhr morgens lag Molly wach, und der Tag graute bereits, als der Schlaf sich endlich einstellte.
Zum Frühstück ging sie hinunter - ein dürftiges Mahl aus dünnem Tee, Brot und Butter. Das Brot war in dicke Scheiben geschnitten und nur ein wenig Butter sparsam darüber gekratzt.
Molly atmete erleichtert auf, als sie im Garten stand. Wieder und wieder umkreiste sie das Haus, bis sie jeden verwitterten Ziegelstein kannte.
Nachmittags führte sie ein Gespräch mit Ms. Barn, bei dem ihr eine Idee kam. Ihre Aufpasserin erzählte, daß diese einsamen Häuser auf dem Moor ursprünglich das Eigentum von Schmugglern gewesen seien, und sie sprach dabei von Höhlen und unterirdischen Gängen, die sich meilenweit hinzögen. Eine offensichtliche Übertreibung, aber vor Mollys innerem Auge zeichnete sich ein Plan ab.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« erkundigte sie sich, um die Frau bei guter Laune zu erhalten.
»Natürlich! Nehmen Sie einen Besen und fegen Sie hier aus«, lautete die wenig freundliche Antwort.
Nach beendeter Arbeit wagte das junge Mädchen eine Bitte: »Darf ich mir den Keller ansehen?«
»Wenn's Ihnen Spaß macht! Der Schlüssel hängt am Nagel.«
Der Keller erwies sich als höchst uninteressant. Der Schein der Lampe offenbarte als einziges Schrecknis eine Maus, die sofort davonhuschte. Nein, hier bot sich keine Fluchtmöglichkeit! Der zweite Kellerraum schien eine Kopie des ersten zu sein, bis sie etwas entdeckte, was ihren fast erloschenen Hoffnungen neue Nahrung gab. Das Mauerwerk der einen
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