0313 - Der Blutgraf erwacht
Mann herankommen soll…«
Gina lächelte.
Nun, vielleicht konnte es sich lohnen, diesen Kongreß einmal zu besuchen, als Zuschauerin sich anzuhören, was die Experten erzählten, was die eingeladenen Magier, Illusionisten und Scharlatane zustande brachten. Und wenn sie Glück hatte, konnte sie vielleicht mit einem dieser Experten über ihr Erlebnis reden.
Andererseits… war es denn tatsächlich so wichtig? Gut, sie hatten eine geisterhaft schwebende Gestalt gesehen. Aber ebensogut konnte sich jemand mit ihnen einen üblen Scherz gemacht haben. Vielleicht gab es da doch eine Geheimtür in der Mauer. Vielleicht waren die Burschen zu zweit gewesen, und der zweite hatte den Flüchtenden im Wald aufgelauert …
Nach dem Durchstöbern der einschlägigen Passagen des Buches kam ihr diese Lösung plötzlich als die Wahrscheinlichkeit vor. Also: Das Ganze möglichst bald vergessen. Allerdings würde sie um nichts in der Welt noch einmal die Ruine betreten.
Obgleich sie vergessen wollte, schossen ihr noch die abenteuerlichsten Spekulationen durch den Kopf. Irgendwann hatte sie einmal eine Geschichte gelesen, in der jemand ein Verbrechen plante und seine »Operationsbasis« mit einem Spukphänomen tarnte, das er durch technische Tricks hervorrief. Die Größe seines kriminellen Projektes reichte aus, den technischen Aufwand zu rechtfertigen.
Vielleicht geschah hier Ähnliches?
Quatsch schalt sie sich. So etwas gab’s nur in Romanen und Filmen.
Gina sah auf die Uhr. Es war schon spät geworden. Sie kleidete sich aus, duschte und rollte sich in ihrem Bett zusammen. Nach erstaunlich kurzer Zeit schlief sie bereits ein. Aber es war ein unruhiger Schlaf. Es war warm, und obgleich das Fenster offen stand, brachte die Nacht keine Linderung des schwülen Klimas. Die dünne Decke verrutschte, während Gina sich unruhig hin und her drehte.
Mit ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie diese kleine Wohnung bezogen und mit Hilfe von Eltern und Freunden gemütlich eingerichtet. Prunkstück war ein Schaukelstuhl, der im Wohn- und Arbeitsraum stand.
Plötzlich begann der Stuhl sich zu bewegen, wippte langsam hin und her.
Gina erwachte von dem leisen Geräusch, das die Kufen auf dem Fußboden machten. Die Tür zum Schlafraum stand wie üblich offen, wenn Gina allein war. Sie richtete sich halb auf und lauschte dem Geräusch nach. Im ersten Moment war sie froh, aufgewacht zu sein.
Sie entsann sich, schlecht geträumt zu haben, konnte sich aber erfreulicherweise an den Inhalt der Träume nicht erinnern.
Und der Schaukelstuhl bewegte sich wirklich!
Das gibt’s nicht, dachte Gina. Im Wohnraum war das Fenster zwar auch geöffnet, aber ein Windstoß reichte kaum aus, den quer zur Windzugrichtung stehenden Stuhl in Bewegung zu setzen. Zudem regte sich kein Lüftlein; die Gardinen waren ruhig.
Unwillkürlich begann Gina zu frösteln, obgleich es immer noch warm war. Mit einem heftigen Ruck richtete sie sich endgültig auf.
Da war doch jemand in der Wohnung!
Im Schaukelstuhl…
Sie erhob sich und huschte zur Tür, sah ins Wohnzimmer. Da nahm der Jemand Konturen an, die sich aus der Dunkelheit schälten. Ein großer Mann, dessen Kopf von einem Schädelhelm gekrönt wurde…
»Verflixt noch mal!« fuhr Gina auf. »Was soll…«
Sie unterbrach sich jäh. Schlagartig flammte das Licht im Zimmer auf. Geblendet schloß sie die Augen. Als sie wieder sehen konnte, erhob sich der Unheimliche gerade aus dem Schaukelstuhl.
Er warf keinen Schatten!
Gina wollte aufschreien, aber ihre Stimme versagte. Lautlos schwebte der Unheimliche auf sie zu. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als er die Hände nach ihr ausstreckte. Unwillkürlich kreuzte sie die Arme schützend über ihren Brüsten, wich zur Seite. Nur nicht zurück ins Schlafzimmer! Da gab’s keine weitere Fluchtmöglichkeit…
»Mein«, hallte es in ihrem Gehirn auf. »Du bist mein…«
Da duckte sie sich unter seinen zupackenden Händen weg und rannte zur Tür. Dahinter lag der kleine Korridor, der nach draußen ins Treppenhaus des Hochhauses führte. Gina rannte hindurch, rüttelte an der Korridortür. Abgeschlossen, natürlich! Mit fliegenden Fingern drehte sie den Schlüssel, stieß die Tür auf und hetzte nach draußen.
Der Unheimliche stand im Korridor.
Und sein Blick erfaßte etwas, das über der Tür an der Wand hing.
Abwehrend hob er die Hände, wandte sich ab, während sein Kopf zu zerfließen schien, das Gesicht zu einer knöchernen Skelett-Fratze wurde.
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